J.R.R. Tolkien ist einer der bekanntesten und gefeiertesten Autoren unserer Zeit und seine Bücher gehören zu den meistverkauften der Welt. Kein Wunder also, dass jede Menge Informationen über ihn im Umlauf sind – und nicht alle davon sind wahr. Viele Irrtümer halten sich bereits seit Jahren hartnäckig. In diesem Artikel stellen wir Euch die 10 größten Irrtümer über J.R.R. Tolkien vor.
Irrtum 1 – Tolkien wurde in England geboren.
Tolkien war wohl einer der englischsten Autoren seiner Zeit, wollte er doch lange Jahre eine Mythologie schreiben, die er ganz seiner geliebten Heimat widmen konnte. Geboren wurden Tolkien 1892 allerdings nicht auf der Insel, sondern fast 10.000 Kilometer entfernt in Bloemfontein im Oranje-Vrijstaat, heute Südafrika. Das lag daran, dass Tolkiens Vater Arthur dort einen Posten bei der Bank innehatte. Erst mit 3 Jahren kam Tolkien nach England und blieb dort für den Rest seines Lebens, Südafrika hat er nie wieder betreten.
Irrtum 2 – Tolkien verabscheute Shakespeare.
1955 schrieb Tolkien, dass er die Werke William Shakespeares „von Herzen verabscheute” und setzte damit wohl diesen Irrtum in die Welt. Tatsächlich bezieht sich diese Aussage aber auf Tolkiens Schulzeit. Im Erwachsenenalter war Tolkiens Beziehung zu Shakespeare deutlich komplexer. So bemühte er sich als Professor in Oxford darum, dass Studenten, die sich auf die englische Sprache konzentrieren wollten, sich nicht mehr mit Shakespeare beschäftigen mussten. Das lag aber wohl weniger an einer persönlichen Abneigung, sondern schlichtweg daran, dass Tolkien andere Autoren und Aspekte der englischen Philologie spannender fand. Tom Shippey stellt in seinem Buch J.R.R. Tolkien – Autor des Jahrhunderts mehrere Ähnlichkeiten zwischen Shakespeares Drama „Macbeth“ und dem Herrn der Ringe heraus und kommt zu dem Schluss, Tolkien habe Shakespeare mit „verhaltenem Respekt“ betrachtet. Das passt auch zu einem Briefentwurf, den Tolkien 1954 schrieb. Darin stellt er Shakespeare in eine Reihe mit Homer, Beowulf und Vergil.
Irrtum 3 – Tolkiens Vorfahren kamen aus Sachsen.
Diese Geschichte über die Herkunft seines Nachnamens schrieb J.R.R. Tolkien 1955 an den Verlag Houghton Mifflin und erwähnt sie auch an anderen Stellen. Leider scheint er dabei einer Volksetymologie auf den Leim gegangen zu sein. Als Etymologie bezeichnet man eine Erklärung für den Ursprung eines Wortes oder Namen. Eine Volksetymologie beruht aber nicht auf einer wissenschaftlichen Erklärung, sondern beispielsweise, wie wohl auch im Fall „Tolkien“, auf einem ähnlichen Klang zwischen zwei Wörtern.
Der polnische Tolkien-Experte Ryszard Derdziński forscht seit vielen Jahren zu Tolkiens Abstammung und hat seine Vorfahren im ostpreußischen Kreuzburg, heute Slavskoye (Russland), ausgemacht. Ende des 18. Jahrhunderts emigrierte Tolkiens Ururgroßvater nach London. Der Name Tolkien kommt laut Derdziński aus dem Niederpreußischem, einem deutschen Dialekt, und bedeutet so viel wie „Nachkomme von Tolk“.
Kurzzusammengefasst bedeutet das: Deutsch ja, sächsisch nein.
Tolkien sprach übrigens sehr gut Deutsch, das er erst von seiner Mutter und dann in der Schule lernte.
Mehr Informationen zu Tolkiens Vorfahren in Ostpreußen findet Ihr auf Ryszard Derdzińskis Blog (Polnisch/Englisch).
Irrtum 4 – Tolkien schrieb einen erheblichen Teil seines Legendarium während seines Kriegsdiensts in Frankreich nieder.
Bei vielen Lesern hat sich ein recht romantisches Bild eingeprägt: Tolkien sitzt während des Ersten Weltkriegs im Schützengraben in Frankreich und schreibt eifrig an seiner erfundene Mythologie, die heute als Legendarium bezeichnet wird. Doch die Realität war anders:
Erst als Tolkien aufgrund einer Infektion mit Grabenfieber ab November 1916 lange Zeit in Krankenhäusern und auf Heimaturlaub zubrachte, konnte er sich dem Schreiben zuwenden. Aus dieser Zeit stammt ein Großteil der ältesten Geschichten des Legendariums. Man findet sie im Buch der Verschollenen Geschichten (zwei Teile).
Irrtum 5 – Tolkien hatte einen Doktortitel.
Wer heutzutage eine akademische Karriere anstrebt, der beginnt üblicherweise mit einem Bachelor, macht dann einen Master und promoviert anschließend, um einen Doktortitel zu erlangen. In Deutschland, Österreich, der Schweiz und einigen anderen Ländern muss man dann meistens noch habilitieren, um Professor werden zu können.
Zu Tolkiens Zeiten war das noch ganz anders. 1915 erreichte Tolkien in Oxford die First-class honours in Englischer Sprache und Literatur, und damit einen Bachelor of Arts. Einen Doktortitel im heutigen Sinne hat Tolkien nie gemacht. Das hielt ihn nicht davon ab bereits 1924, also mit gerade einmal 32 Jahren Professor für Englische Sprache an der Universität Leeds zu werden und ab 1925 hintereinander zwei Professuren in Oxford inne zu haben. Damals zählten Titel weniger, stattdessen waren akademische Qualifikation und Leistungen vor Ort wichtig.
Später erhielt Tolkien übrigens mehrere Ehrendoktortitel, darunter 1972 von der Universität Oxford.
Irrtum 6 – Tolkien mochte keine Autos.
Seinen weltweiten Erfolg verdankt Der Herr der Ringe wohl auch der us-amerikanischen Umweltbewegung, die Tolkiens Epos als Kritik an Umweltzerstörung und Industrialisierung sah. Sehr gut dazu passt die romantische Vorstellung, wie Tolkien mit seinem Fahrrad durch Oxford radelt und seinen Lieblingsbaum besucht. Zwar fuhr Tolkien tatsächlich viel Fahrrad, Autos war er dennoch nicht abgeneigt.
Sei erstes Auto kaufte Tolkien 1932, einen Morris Cowley, der von der Familie nach seinem Nummernschild liebevoll „Jo“ genannt wurde. In ihm fuhren die Tolkiens unter anderem in die Ferien. Laut dem Biographen Humphrey Carpenter war Tolkiens Fahrstil „mehr gewagt als gekonnt“ (damals gab es noch keine Führerscheinprüfung). Bei einer der ersten Fahrten rammte er sogar eine Steinmauer. Solche Erlebnisse verarbeitete Tolkien angeblich in der Geschichte vom Herrn Glück, der ebenfalls kein besonders geschickter Autofahrer ist und mehrere Pannen hat (Steinmauer inklusive).
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gaben die Tolkiens ihr Auto ab, da Benzin rationiert wurde. Nach dem Krieg kaufte Tolkien auch kein neues Auto. Humphrey Carpenter schreibt dazu: „Um diese Zeit [Beginn des Zweiten Weltkriegs] hatte Tolkien den Schaden erkannt, der der Verbrennungsmotor und die neuen Straßenbauten der Landschaft zufügten […].“
Vielleicht ist das zu idealistisch und Tolkien hatte einfach die Lust am Fahren verloren oder die Tolkiens brauchten kein Auto mehr, nachdem die Kinder aus dem Haus waren. Später beschäftigten sie regelmäßig einen Chauffeure.
Was immer auch Tolkiens Beweggründe waren, Der Herr der Ringe kann auch weiterhin im Sinne des Naturschutzes gelesen werden – Autos hat Tolkien trotzdem benutzt.
Irrtum 7 – Tolkien schrieb Das Silmarillion vor den Nachrichten aus Mittelerde.
Dieser Irrtum hat mit der Reihenfolge zu tun, in der diese beiden Bücher veröffentlicht wurden: Das Silmarillion erschien erstmals 1977 (auf Deutsch 1978), Nachrichten aus Mittelerde erst 1980 (auf Deutsch 1983). Tatsächlich beinhalten aber beide Werke Geschichten aus Tolkiens Legendarium, an dem er, wie oben erwähnt, seit spätestens 1916 arbeitete. Im Silmarillion wurden die Versionen der Geschichten zusammengetragen und bearbeitet, von denen Tolkiens Sohn Christopher annahm, sein Vater habe sie als die endgültigen betrachtet. In Nachrichten aus Mittelerde finden sich hingegen, wie der englische Name Unfinished Tales andeutet, unvollendete Versionen in ihrer Urfassung, versehen mit Kommentaren von Christopher. Tolkien schrieb die Geschichten aus dem Silmarillion und Nachrichten aus Mittelerde als de facto gleichzeitig über einen langen Zeitraum hinweg.
Mehr Informationen über Das Silmarillion und Nachrichten aus Mittelerde findet Ihr hier.
Irrtum 8 – Tolkien hegte eine tiefe Abneigung gegenüber Frankreich.
Tatsächlich mochte Tolkien weder französisches Essen noch die französische Sprache, über das Land an sich hat er sich aber nie negativ geäußert. Trotzdem schreibt Biograph Humphrey Carpenter deutlich zu überspitzt:
„Schon lange vor diese Reise [nach Frankreich] hatte [Tolkien] eine Abneigung gegen Frankreich und die Franzosen gefaßt, und was er nun sah, heilte ihn nicht von seiner Gallophobie.“
„Diese Reise“ unternahm Tolkien 1913 als Mentor für zwei mexikanische Jungen, die ihre Tanten in Paris besuchten. Eine der beiden Tanten wurde vor Tolkiens Augen von einem Auto erfasst und erlag wenig später ihren Verletzungen. 1916 diente Tolkien dann für einige Monate als Soldat in Frankreich, unter anderem in der Schlacht an der Somme. Kein Wunder also, wenn er nicht die besten Erinnerungen an Frankreich hatte. Dennoch äußerte er 1945 den Wunsch, die Kriegsschauplätze noch einmal zu besuchen. „Gallophobie“ war das sicher nicht.
Irrtum 9 – Tolkien war ein eigenbrötlerischer Stubenhocker.
Das Vorurteil, Schriftsteller würden den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen, niemals vor die Tür gehen und Kontakte zu anderen Menschen meiden, scheint sich immer noch zu halten. Tolkien, und vermutlich die meisten seiner Kollegen, war nichts dergleichen. In seiner Jungend war Tolkien begeisterter Rugbyspieler und er hatte immer viele Freunde und Bekannte. Einer bemerkte einmal, nach den Einladungskarten in seinem Zimmer im Exeter Collage in Oxford zu urteilen, müsse er jedem Studentenclub des Colleges beigetreten sein. Auch in seiner Zeit als Professor war Tolkien gerne unter Leuten und in Gesellschaften unterwegs. Die bekannteste davon ist die „Inklings“, die sich regelmäßig im Pub „Eagle and Child“ traf und vermutlich der Grund ist, weshalb der Der Herr der Ringe je vollendet wurde.
An der frischen Luft war Tolkien immer gerne, nicht nur zum Sport, sondern später in seinem Leben auch beim Spazierengehen, Wandern und der Gartenarbeit. Viele kennen Tolkien nur als alten, etwas untersetzen Herrn, mit Weste und Pfeife – der prototypische Hobbit eben. Aus dieser Zeit stammen auch mit Abstand die meisten Fotos von Tolkien, denn es war die Zeit, in der seine Werke zu Weltbestsellern wurden. Fotos aus der Zeit vor seiner Pensionierung zeigen Tolkien hingegen schlank und rank. Dass er im Alter mehr Zeit zum Essen hatte, wollen wir ihm von Herzen gönnen.
Irrtum 10 – Tolkien hatte Angst vor Spinnen.
Das Gerücht, Tolkien sei Arachnophobiker gewesen, habe also panische Angst vor Spinnen gehabt, ist so weit verbreitet, dass sogar eingefleischte Tolkien-Fans es manchmal weitertragen. Tolkien hingegen sah das anders. 1955 schrieb er in einem Brief:
Zwar sagte Tolkien später widersprüchlich, er möge Spinnen nicht so gerne, trotzdem können wir hier sicher nicht von einer ausgeprägten Panik sprechen. Wer hingegen Angst vor Spinnen hatte, war Tolkiens Sohn Michael. Ihm „zu Liebe“ baute Tolkien die riesigen Düsterwaldspinnen in den Hobbit ein. Und es gibt noch jemanden mit Arachnophobie, der wohl nicht unbescheiden zur Verbreitung dieses Irrtums beigetragen hat: Peter Jackson.
Ich danke Christiane Steinwäscher, Sophie Bauer und Marcel Aubron-Bülles für Ihre Mithilfe bei diesem Artikel.
Quellen
(wenn nicht schon im direkt im Text angegeben)
Irrtum 1:
Tolkien, J.R.R. 2002. Briefe. Stuttgart: Klett-Cotta. Brief 131.
Carpenter, Humphrey. 1979. J.R.R. Tolkien: Eine Biographie. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 21-22.
Irrtum 2:
Tolkien, J.R.R. 2002. Briefe. Stuttgart: Klett-Cotta. Briefe 156, 163.
Scull, Christina & Wayne G. Hammond. 2017. Reader’s Guide – Part II: N-Z. London: HarperCollins. S. 1146ff.
Shippey, Tom. 2002. J.R.R. Tolkien: Autor des Jahrhunderts. Stuttgart: Klett-Cotta. S.243-246.
Irrtum 3:
Tolkien, J.R.R. 2002. Briefe. Stuttgart: Klett-Cotta. Brief 165.
Irrtum 4:
Zitat aus “The Hobbit Man”, Artikel von Philip Norman im Sunday Times Magazine (15. Januar 1967), zitiert in Garth, John. 2014. Tolkien und der Erste Weltkrieg. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 269.
Tolkien, J.R.R. 2018. Das Buch der Verschollenen Geschichten. Teil 1+2. Stuttgart: Klett-Cotta.
Irrtum 5:
Scull, Christina & Wayne G. Hammond. 2017. Chronology. London: HarperCollins. S. 76, 135, 140, 802.
Irrtum 6:
Carpenter, Humphrey. 1979. J.R.R. Tolkien: Eine Biographie. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 135ff., 182f., 261
Tolkien, J.R.R. 1983. Herr Glück. Stuttgart: Klett-Cotta.
Irrtum 8:
Tolkien, J.R.R. 2002. Briefe. Stuttgart: Klett-Cotta. Briefe 96, 213.
Carpenter, Humphrey. 1979. J.R.R. Tolkien: Eine Biographie. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 82f.
Irrtum 9:
Carpenter, Humphrey. 1979. J.R.R. Tolkien: Eine Biographie. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 54, 140, 226ff.
Garth, John. 2003. Tolkien and the Great War: The Threshold of Middle-earth. London: HarperCollins. S. 31.
Irrtum 10:
Tolkien, J.R.R. 2002. Briefe. Stuttgart: Klett-Cotta. Brief 163.
Scull, Christina & Wayne G. Hammond. 2017. Reader’s Guide – Part II: N-Z. London: HarperCollins. S. 1252-1255.
http://tolkiengateway.net/wiki/Spiders#Inspiration
Tolkien, J.R.R. & Douglas A. Anderson. 2012. Das große Hobbit Buch. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 234.
Bildquellen
Titelfoto: Tobias M. Eckrich
Bloemfontain: Creswicke, Louis. [Public domain]
Kreuzburg: Christoph Hartknoch [Public domain]
Herr Glück: Cover von Tolkien, J.R.R. 1983. Herr Glück. Stuttgart: Klett-Cotta.
Tolkien: Cover von Geier, Fabian. 2009. J.R.R. Tolkien. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.