John Ronald Reuel Tolkien - Tolkien-Fandom - Fanfiktion
Manche Menschen können von Mittelerde einfach nicht genug kriegen. Sie wollen unbedingt mehr Zeit mit den Gefährten verbringen, die Entwicklung Gondors nach Aragorns Krönung weiterverfolgen oder mit dabei sein, wenn Feanor die Noldor zur Flucht aus Valinor verleitet. Die logische Konsequenz: eine eigene Geschichte schreiben. Andere Menschen sind nach dem Lesen der Bücher enttäuscht, weil in der Geschichte zu wenige Frauen vorkamen. Oder ein spannendes Ereignis nur im Hintergrund abgehandelt wurde. Oder Legolas und Gimli endlich knutschen sollen. Oder Tolkien überhaupt nicht erklärt hat, wie das Steuerrecht in Gondor geregelt ist. Auch da hilft nur eins: selber schreiben…
 
Wenn Fans die Hintergründe, Völker, Figuren oder Rahmengeschichte eines veröffentlichten Werks nutzen, um damit eine eigene Geschichte zu schreiben, hat sich dafür der Begriff Fanfiktion (engl. Fanfiction) etabliert. Im Gegensatz dazu wird für die Originaltexte der aus dem religiösen Bereich stammende Begriff “Kanon” verwendet. Die Motivationen hinter Fanfiktion sind, wie schon angedeutet, vielfältig. Insgesamt lassen sich zwei große Strömungen unterscheiden: eine ist auf Erhalt und Ausbau bedacht und befasst sich eher mit Nacherzählungen (z.B. aus einer anderen Perspektive oder mit Schwerpunkt auf ein bestimmtes Thema) und dem Füllen textlicher Lücken, die andere strebt nach Umbau und nutzt Fanfiktion als Vehikel, um empfundene Mängel im Text zu korrigieren (z.B. zu wenig Politik, unbefriedigender Ausgang einer Geschichte, zu wenig Sex). Und natürlich kann man auch einfach Spaß mit der Vorlage haben, beispielsweise die Geschehnisse ins 21. Jahrhundert versetzen (was wäre, wenn Legolas ein amerikanisches College besuchen würde?) oder mit anderen Fantasy- oder Science Fiction-Szenarien fusionieren (was wäre, wenn Elrond ein Jedi-Ritter wäre?).
 
Wurde Fanfiktion lange Zeit eher mitleidig belächelt oder rundheraus (besonders wegen der weit verbreiteten Tendenz zu homoerotischen Liebesabenteuern, so genannter Slash Fiktion) als Schund verurteilt, erobert sich das Phänomen langsam mehr Anerkennung. Die Fandom-Forschung befasst sich mittlerweile ernsthaft mit den Hintergründen und Antrieben der Autoren, analysiert die Fanfiktion-Kultur unterschiedlicher Generationen und verfolgt die Entwicklung von Trends wie etwa “Racebending” (Neuinterpretationen, in denen einige oder alle Figuren beispielsweise schwarz sind oder aus dem asiatischen Kulturraum stammen) oder Werktreue.

Letztere ist im Tolkien-Fandom ungewöhnlich hoch – Fanfiktion-Autoren erwarten von sich und anderen in der Regel, dass man sich im “Kanon” hervorragend auskennt und eigene Interpretationen und Charakterisierungen im Zweifelsfall mit Textverweisen belegen kann. In dieser Hinsicht ähnelt Tolkien-Fanfiktion eher historischen Romanen als der Fanfiktion-Kultur in anderen großen Fandoms vergleichen. Allerdings gibt es szene-intern große Unterschiede zwischen filmbasierter Fanfiktion, die Peter Jacksons Adaptionen als Grundlage nutzen und die Bücher teilweise oder ganz ignorieren, und buchbasierter Fanfiktion, für die die Filme nicht zum “Kanon” gehören.
 
Egal, ob man Fanfiktion nun mag oder eher der Ansicht ist, dass die Leute sich eigene Welten und Figuren ausdenken sollten: Das Phänomen macht einen großen Teil des Fandoms aus, und auf den entsprechenden Plattformen wie Fanfiktion.de oder (im englischsprachigen Raum) Archiveofourown.org findet man tausende Geschichten, die Tolkiens Legendarium zur Inspiration haben. In früheren Jahren des Web 2.0 gab es zudem zahlreiche auf Tolkien (oder sogar spezielle Genres oder Untergruppen) spezialisierte Fanfiktion-Archive, die aber in den vergangenen Jahren stetig weniger wurden. Das liegt aber nicht daran, dass es weniger Fanfiktion gibt, sondern daran, dass sie mittlerweile eher auf großen Plattformen als in kleinen Archiven veröffentlicht wird.
 
Rechtlich betrachtet bewegt sich Fanfiktion in einer (mehr oder weniger dunklen) Grauzone. Anders als Fanart, die im Großen und Ganzen wohlwollend betrachtet wird, ist Fanfiktion vom Tolkien Estate ausdrücklich nicht erlaubt. Allerdings gehört der Estate anders als Autoren wie z.B. Anne Rice oder Diana Gabaldon zur Zeit nicht zu den Rechteinhabern, die Fanfiktion gezielt strafrechtlich verfolgen, solange damit keine kommerziellen Interessen verfolgt werden. Interessengruppen wie die amerikanische Organisation for Transformative Works (OTW) argumentieren außerdem, dass Fanfiktion genau wie Zitate in wissenschaftlichen oder journalistischen Texten von der Fair Use-Klausel abgedeckt ist. Offiziell gilt aber ganz klar: Der Tolkien Estate autorisiert keine Veröffentlichung von Tolkien-basierter Fanfiktion, auch nicht online und auch nicht für nicht-kommerzielle Zwecke.
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