Als Professor für englische Sprache und Literatur beschäftige sich J.R.R. Tolkien mit mittelalterlichen Texten. Um diese kreisen auch viele seiner wissenschaftlichen Publikationen, die teils noch immer von Bedeutung sind. Darüber hinaus gibt es nach wie vor unveröffentliche Manuskripte in Tolkiens Nachlass und in den Archiven der Bodleian Library.
A New English Dictionary on Historical Principles Vol X Pt II, V-Z
Nach Ende des Ersten Weltkriegs hatte Tolkien das Glück, einen Posten als Lexikograph unter William Craigie beim brandneuen Oxford English Dictionary (damals noch A New English Dictionary on Historical Principles) zu erlangen. Von 1918 bis 1920 lautete seine Mission: Bedeutungsgeschichte und Vorkommen englischer Wörter mit W aus allen Jahrhunderten aufzuspüren, dutzende Entlehnungen aus anderen Sprachen eingeschlossen. Wer den Meister bei der Arbeit sehen möchte, findet ihn unter anderem verewigt in “water”, “wick”, “willow” und “wasp”.
A Middle English Vocabulary
Zu seinem Lehrwerk Fourteenth Century Verse and Prose hatte Tolkiens Tutor Kenneth Sisam ein Wörterbuch geplant, für das ihm aber die Zeit fehlte. Deshalb beauftragte er seinen ehemaligen Studenten im Jahr 1919 damit, das Glossar zu erstellen. Tolkien verfasste die Wortlisten mit der ihm eigenen Akribie und folgte damit den gleichen Grundsätzen, die auch für die Arbeit am Oxford English Dictionary galten. Damit wich er vom damals üblichen Vorgehen für historische Wörterbücher ab: statt über Hintergründe und Verwandtschaft seltener Worte zu spekulieren, verwendete er viel Zeit auf vermeintlich einfache Worte wie “to” oder “habben”, beleuchtete verschiedene Bedeutungsebenen und lieferte Textbelege für seine Interpretationen.
Sir Gawain and the Green Knight
Mit dem mittelalterlichen Text Sir Gawain und der Grüne Ritter hat sich Tolkien mehrfach beschäftigt. 1925 veröffentlichte zusammen mit E. V. Gordon eine kommentierte Ausgabe des mittelenglischen Originaltext – seit dem Erscheinen ein immer wieder aufgelegtes Standardwerk. 1975 erschien in der Ausgabe Sir Gawain and the Green Knight with Pearl and Sir Orfeo Tolkiens Übersetzungen dreier mittelenglischen Texte aus dem Oxforder Lektürekanon für das Englischstudium.
Gawain und Pearl (die Klage um ein totes Mädchen, das den trauernden Vater mit der Aussicht auf ewiges Leben tröstet) stammen vom selben Dichter, der unbekannte Verfasser von Sir Orfeo versetzt den griechischen Orpheusmythos in eine ritterliche Welt, die wie im Gawain zur Welt des Märchenhaft-Unheimlichen offen steht. Die Motivverwandtschaft zu Tolkiens eigener Dichtung lässt sich leicht erkennen, ein sprachlicher Genuss sind die Texte sowieso.
Achtung: die seit 1967 erhältliche deutsche Übersetzung von Hans J. Schütz ist vom Original-Gawain, nicht von Tolkiens neuenglischer Version angefertigt!
On Fairy-Stories
Dieser Aufsatz hat es über den Kreis der Tolkien-Leser hinaus in die Diskussionen der modernen Erzähl- und Mythenforschung aller Disziplinen geschafft (und auf Umwegen, eher aus Versehen, für den Gattungsbegriff “Fantasy” gesorgt). Hier formuliert Tolkien, halb als Autor, halb als Philologe sein Verständnis des Außergewöhnlichen an Märchen und Sagen und beschreibt ihr Verhältnis zur “primären” Welt und Wirklichkeit. Außer den inneren Gesetzen und der Logik märchenhafter Welten und ihrer Bewohner setzt er sich mit den (uralten) Vorwürfen der Realitätsflucht und -verweigerung auseinander und zerpflückt sie. Besonders liegt ihm die Wirkung am Herzen, die ihren Gipfel im erlösenden Moment der Geschichte erreicht, der rettenden “Eukatastrophe”, in der sich die Hoffnung auf Welterlösung spiegelt und spürbar wird.
Ancrene Wisse
Alles, was Einsiedlerinnen wissen müssen, wurde zu Beginn des 13. Jahrhunderts in der Ancrene Wisse (auch Ancrene Riwle) zusammengefasst. Das bedeutendste Manuskript ist im Corpus Christi-College, Cambridge, erhalten. Auf seiner Basis erstellte J.R.R. Tolkien diese Übersetzung. Er wies zudem nach, dass das Corpus Christi-Manuskript 402 mit einer Handschrift im Besitz der Bodleian Library in Oxford identisch ist. Zwei der von Tolkien geförderten Studentinnen, Simone D’Ardenne und Mary Salu, veröffentlichten jeweils weitere Studien zu diesem mittelenglischen Text.
Gute Drachen sind rar
Diese Sammlung beinhaltet die drei Vorträge „Beowulf: Die Ungeheuer und ihre Kritiker“, „Über Märchen“, und „Ein heimliches Laster“ („A Secret Vice“), in dem Tolkien seine Leidenschaft für das Erfinden von Sprachen gesteht.
Die Ungeheuer und ihre Kritiker
Im Vortrag “Beowulf: Die Monster und ihre Kritiker” fordert Tolkien für den Umgang mit der bekanntesten altenglischen Dichtung überhaupt neue Maßstäbe ein, die sich an künstlerischer Absicht und Vorstellungswelt des unbekannten Autors orientieren, statt vorrangig nach Textvarianten, historischen Vorbildern und verwerteten “Bausteinen” zu fragen. Damit ist nicht nur ein Richtungsstreit in der Philologie angesprochen, sondern wir erhalten auch Einblicke darin, wie sich Tolkien – gerade auch aus eigener Erfahrung als Erzähler – die zeitliche Tiefe in der Entstehung und Weitergabe einer “großen Geschichte” und ihrer Motive vorstellt.
Außerdem enthält dieser Band die Vorträge “Zur Übersetzung des Beowulf”, “Sir Gawain und der Grüne Ritter”, “Über Märchen”, “Ein heimliches Laster” sowie “Rede zum Abschied von der Universität Oxford”.
The Old English Exodus
Bei diesem Exodus-Text handelt es sich nicht etwa um eine direkte Übersetzung des 2. Buchs Moses, sondern um eine altenglische Nacherzählung in Gedichtform, die im Stil heroischer Epen wie Beowulf verfasst ist. Durch die dichterische Freiheit, die sich der unbekannte angelsächsische Autor genommen hat, eröffnet es einen Blick auf die frühmittelalterliche Interpretation des biblischen Materials in einem (noch nicht vereinten) England, das sich immer wieder von äußeren Feinden bedrängt sah. Auch die sprachliche Dichte und Komplexität machen es zu einem faszinierenden Forschungsgegenstand. Tolkien hielt dazu in Oxford eine Reihe von Vorträgen und fertigte zu diesem Zweck eine Übersetzung des angelsächsischen Originals an. Herausgegeben wurde das Material 1982 von einer ehemaligen Studentin Tolkiens, der renommierten Philologin Joan Turville-Petre.
Finn and Hengest – The Fragment and the Episode
In den Jahren 1928 bis 1937 hielt Tolkien wiederholt Vorträge zum altenglischen Finnsburg-Fragment und zur Erwähnung der Finn von Friesland-Thematik im Beowulf. Seine Vorlesungsnotizen und Übersetzung stellte Alan Bliss diesen Band zusammen.
Beowulf: A Translation and Commentary, Together with Selic Spell
Diese Übersetzung des mittelalterlichen Epos von 1926 hat Tolkien zwar zügig und sorgfältig, aber offenbar nur für den Eigenbedarf angefertigt. Ergänzt ist die Ausgabe um Auszüge aus Tolkiens Beowulf-Vorlesung. Im zweiten Teil des Bandes versucht Tolkien sich an einer literarischen “Einfühlung” in Atmosphäre und Erzählhaltung der Frühzeit: mit “Sellic Spell”, der neu geschriebenen Vorgeschichte zur Isländer-Saga von Hrolf Kraki, und der (in vielen Punkten überraschend modernen und detailreichen!) Ballade “The Lay of Beowulf”.
Tolkien’s Lost Chaucer
Von 1922 bis 1928 arbeitete Tolkien an einer Ausgabe ausgewählter Texte des mittelenglischen Dichters Geoffrey Chaucer, der die englische Literatur maßgeblich prägte. Der Mediävist John M. Bowers hat die 160 Seiten seines Manuskripts mit anderen erhaltenen Tolkien-Texten zu Chaucer (z.B. Vorlesungsskripte) veröffentlicht und kommentiert. Der so entstandene Band zeigt einen Ausschnitt aus Tolkiens philologischem Schaffen und seinem Verständnis von Sprache und Erzählkunst als junger Professor mit literarischen Ambitionen. Noch dazu zeigt Bowers, dass die Auseinandersetzung mit Chaucer Tolkiens eigenes Werk mehr beeinflusst hat, als bisher wahrgenommen wurde.