Was ist drin und wie sieht es aus?
Zunächst einmal zu den Äußerlichkeiten. Das Buch Die Wissenschaft von Mittelerde ist in 6 Kapitel plus Einleitung und Anhang unterteilt. Die Kapitel haben jeweils thematische Schwerpunkte. Die Themen erstrecken sich von Soziologie und Geschichte über Geologie, Meteorologie und Metallkunde bis hin zu Medizin, Biologie und mehr. Insgesamt enthält das Buch 41 Artikel von verschiedenen Autor*innen. Damit kommt es auf einen stattlichen Umfang von 383 Seiten. Die farbenfrohe Gestaltung des Covers setzt sich auch im Buch fort: es gibt zahlreiche bunte Grafiken, die Unterkapitel werden von aufwendig gestalteten Buchstaben eingeleitet und der französische Künstler Arnaud Rafaelian hat mehrere großflächige Illustrationen beigesteuert, die zum Inhalt des jeweiligen Artikels passen. Alles in allem ist das Buch sehr ansehnlich und macht äußerlich einen hochwertigen Eindruck.
Zum Inhalt
Leider sind die Äußerlichkeiten fast schon das einzige Positive, was es meiner Meinung nach zu Die Wissenschaft von Mittelerde zu sagen gibt. Bereits im französischen Original und der englischen Übersetzung sind Tolkien-Fans zahlreiche inhaltliche Fehler aufgefallen. Diese betreffen vor allem den Umgang mit Tolkiens Werken, aber auch die Vermittlung der wissenschaftlichen Fakten kommt manchmal zu kurz.
Einer der Autoren, Vivien Stocker, hat sich im Forum des Tolkien Collector’s Guide selbst zu Wort gemeldet:
Im Internet lassen sich mehrere Listen von Fehlern finden, zum Beispiel in diesem Forum. Ich möchte die Liste an dieser Stelle nicht fortsetzen, sondern aufzeigen, zu welchen Problemen die Fehler führen.
Die Wissenschaft von Peter Jackson
Zum einen ist da der sehr laxe Umgang damit, was eigentlich „Tolkien“ ist. Der deutsche Verlag hat es sich an dieser Stelle einfach gemacht, indem er das Buch in Die Wissenschaft von Mittelerde umbenannt hat. „Mittelerde“ kann ja nun alles sein, was irgendwie mit Tolkien zu tun hat, und das ist es auch, was wir im Buch finden: Inhalte aus Tolkiens Werken werden munter mit Erfindungen der Peter-Jackson-Verfilmungen, anderer Adaptionen oder manchmal gar der Autor*innen selbst gemischt. Das krasseste Beispiel für letzteres ist der Artikel „Bericht eines jungen Arztes aus Mittelerde“ von Luc Perino. Dort heißt es unter anderem:
Wie bitte? Ist das eine Fanfiction oder aus einem tolkienesken Rollenspiel? Keine Information aus diesem Zitat ist so bei Tolkien belegt. Eigene Kreativität wäre ja kein Problem und könnte das Buch zwischendurch auflockern – wenn es irgendwie gekennzeichnet wäre! Aber das ist nicht der Fall, Leser*innen müssen annehmen, dass es sich dabei um Fakten zu Tolkiens Werken handelt. Literaturangaben gibt es zu diesem Artikel keine.
Auch die Vermischung von Tolkien und Adaptionen ist nicht immer im Artikel erwähnt, stattdessen müssen wir uns die aus den Fehlern zusammenreimen. Bestes Beispiel dafür: der Artikel „Warum haben Hobbits große Füße?“ von Jean-Sébastian Steyer, einem der Herausgeber. Um es kurz zu machen: Hobbits haben keine großen Füße, zumindest nicht bei Tolkien. Dieser weitverbreitete Irrtum wurde durch spätere Illustrationen und Adaptionen von Tolkiens Werken in die Welt gesetzt. Das scheint der Autor sogar irgendwie zu wissen, denn er merkt an, Tolkiens eigene Illustrationen zeigten Hobbits mit normalgroßen Füßen. Dieser Hinweis kommt allerdings erst recht spät im Artikel und eine Rechtfertigung, was dieser Artikel dann in einem Buch über „Tolkien und die Wissenschaften“ (so der wörtlich übersetzte französische Originaltitel) zu suchen hat, gibt es auch nicht. Ich denke, auch Filmfans haben ein Interesse daran, zu wissen, was nun von Tolkien und was von anderen Menschen stammt.
So stellt beispielsweise Arnaud Varennes-Schmidt in seinem Artikel „Olifantastische Wesen“, Tolkiens Beschreibung der Olifanten der Darstellung in den Peter-Jackson-Verfilmungen gegenüber und ordnet beide in einen wissenschaftlichen Kontext ein. Dieses klare Vorgehen hätte ich mir bei allen Artikeln gewünscht.
Absurde Ungenauigkeiten
Noch ein Autor, der offen zugibt, dass er sich bei Peter Jackson & Co. bedient hat, ist Jean-Philippe Colin in seinem Artikel „Die Evolution der Völker von Mittelerde“. Er klassifiziert die Völker Mittelerdes anhand von Merkmalen in einem phylogenetischen Baum. Dabei bezieht er sich, wie er selbst schreibt, auch auf die „Illustrationen von Alan Lee, John Howe und anderen sowie [auf] Peter Jacksons Filme[…]“. Colin hat hingegen ein anderes Problem: er hat einen wesentlichen Fakt für seinen Artikel falsch verstanden, indem er annimmt, dass im Zweiten Zeitalter alle (!) Menschen auf Númenor gelebt hätten. Wenn Hobbits sich aus Menschen entwickelt haben, dann müssen sie, so schlussfolgert Colin, auch „Blut von Númenor“ haben und weist den beiden Völkern dieses gemeinsame Merkmal zu. Das ist natürlich Unsinn, auch im Zweiten Zeitalter haben Menschen in Mittelerde gelebt und die Hobbits haben sich höchstwahrscheinlich nicht aus Nachkommen der Númenórer entwickelt. Das ist ein ziemlich trauriges Beispiel dafür, wie eine gute Idee (Wie sind die Völker Mittelerdes miteinander verwandt?) durch Unwissen ihren Witz verliert. Colins Schlussfolgerungen werden durch diesen Fehler haltlos.
Ein weiteres Problem des Buches: die Verarbeitung verschiedener Versionen innerhalb Tolkiens Legendarium. Als Beispiel dafür sei der Artikel „Sprache und Evolution bei Tolkien“ von Christine Argot und Luc Vivès genannt. Sie präsentieren in ihrem Artikel unter anderem Tolkiens Darstellung der Entwicklung seiner fiktionalen Sprachen in der Abhandlung Lhammas von 1937. Es ist schön, dass die Autor*innen sich mit diesem weniger bekannten Text aus der History of Middle-earth befasst haben, es ist nicht schön, dass sie an keiner Stelle erwähnen, dass dieser Text zur Zeit der Veröffentlichung des Herrn der Ringe in den 1950ern bereits überholt war. Mehrere Aspekte in den Lhammas weichen stark von den Darstellungen im Herrn der Ringe ab, von den Autor*innen wird das an keiner Stelle thematisiert. Der Kontext des Textes geht damit völlig verloren. Als positives Gegenbeispiel möchte ich den Artikel „Tolkien als Vermittler und Fürsprecher der Philosophie“ von Michaël Devaux nennen. In ihm stellt der Autor drei weniger bekannte Texte Tolkiens mit philosophischem Inhalt vor, die er klar in ihren historischen Kontext einordnet.
Argots und Vivès’ Artikel zu „Sprache und Evolution bei Tolkien“ ist auch ein Beispiel für das mangelnde fachliche Wissen, das sich ebenfalls in einigen Artikel findet. Grundsätzlich wurden die meisten Artikel von Expert*innen für die jeweiligen Themen geschrieben, bei diesem Artikel ist das anders. Argot und Vivès sind keine Linguist*innen, sondern arbeiten laut Anhang im Bereich Paläontologie und vergleichende Anatomie. Das dürfte erklären, warum ihr Artikel den folgenden Satz enthält:
Zu glauben, ein vergleichend arbeitender Philologe – das war Tolkiens Brotberuf – des 20. Jahrhunderts könnte das linguistische Stammbaummodell nicht kennen, ist ungefähr so, als würde man einem zur gleichen Zeit lebendem Physiker unterstellen, er hätte noch nie von der Relativitätstheorie gehört. Die Stammbaumtheorie ist das wichtigste Modell der historischen Sprachwissenschaft (nochmal: Tolkiens Beruf) und dieser Satz zeigt, dass sich die Autor*innen weder mit Tolkien als Person noch mit dem Thema, über das sie schreiben, näher auseinandergesetzt haben.
Ein weiteres Problem vieler Artikel ist die Oberflächlichkeit, die die Autor*innen entweder im Bereich des wissenschaftlichen Themas oder der Bezugnahme auf Tolkiens Werke zeigen. Meistens ist nämlich einer dieser beiden Aspekte in den Artikeln überrepräsentiert. Es wird also entweder ein Thema vorgestellt und dann ab und zu mal ein paar Mittelerde-Fakten eingestreut, oder Tolkiens Welt wird ausführlich vorgestellt und der wissenschaftliche Bezug kommt zu kurz. Nur wenige Artikel finden eine Balance. Als positive Beispiele seien hier die Artikel „Mittelalterliches Hüttenwesen in einer Fantasiewelt“ von Jean-Marc Joubert und Jean-Claude Crivello und „Der Wächter im Wasser“ von Jérémie Bardin und Isabelle Kruta genannt.
Zu guter Letzt hat auch die Übersetzung von Andrea Debbou nochmal einige Fehler eingebaut. Besonders schmerzlich fand ich die Fehlübersetzung von „Gnomish“, der ersten keltisch basierten fiktionalen Elbensprache Tolkiens, als „Zwergisch“ im Artikel „Linguistik und Feenlegenden“ von Damien Dabor.
Fairerweise muss ich sagen, dass das Buch auch gute Artikel enthält. Einige habe ich bereits genannt. Vor allem die von Vivien Stocker im Zitat oben erwähnten Autor*innen machen einen guten Job, was die Tolkien-Fakten angeht, und ihre Artikel sind auch aus der Perspektive des wissenschaftlichen Themas interessant. Ich mochte auch den Artikel „Der Streit der Paläoanthropologen um einen Hobbit“ von François Marchal. Er befasst sich mit der Menschenart „Homo floresiensis“, die auch als „Hobbits“ bekannt geworden ist. Der Tolkien-Bezug ist in diesem Artikel zwar gering, aber die Bezeichnung dieser Art als „Hobbit“ ist ein weitbekannter Tolkien-Fun-Fact und es ist schön, mehr dazu von einem Experten erklärt zu bekommen.
Fazit
Abschließend muss ich sagen, dass ich persönlich Die Wissenschaft von Mittelerde leider nicht empfehlen kann. Das Buch enthält einfach zu viele Fehler, um Tolkien-Fans glücklich zu machen. Auch die guten Artikel leiden oft unter vermeidbaren Fehlern oder weisen lückenhaftes Wissen über Tolkiens Werke auf. Die Herausgeber und der deutsche Verlag haben es leider unterlassen, die Artikel ordentlich inhaltlich lektorieren zu lassen. Für den stolzen Preis von 50€, und bald 70€, hätte ich mehr erwartet.
Die Tolkien-Forscherin und Professorin für Physik und Astronomie Kristine Larsen schreibt dazu in ihrer Rezension für das Journal of Tolkien Studies:
Alle, die sich schonmal in irgendeiner Weise tiefgehender mit Tolkien auseinandergesetzt haben – sei es für einen wissenschaftlichen oder populären Vortrag, Fanfiction, Rollenspiel oder Fanart – wissen, wie komplex und schwierig das ist. Man kann sich nicht mal eben einlesen, man muss sich extrem gut innerhalb der Werke auskennen, die verschiedenen Versionen einer Geschichte und ihre Werksgeschichte berücksichtigen und mit Unstimmigkeiten leben. Der Respekt, um es mit Larsens Worten zu sagen, für diese Komplexität fehlt bei vielen Autor*innen in diesem Buch.
Ich habe grundsätzlich kein Problem damit, wenn Inhalte aus Adaptionen miteinbezogen werden. Auch mit kreativen Interpretationen wie der von Luc Perino kann ich leben – wenn sie denn gekennzeichnet sind. Nach meiner Meinung ist der Zweck des Buches verfehlt, wenn nur Tolkien-Expert*innen die Texte richtig einordnen können. Das Buch hätte eine interessante und leichte Einführung in wissenschaftliche Themen für Tolkien-Fans sein können, diese Chance wurde leider verpasst.