Die große Hobbit-Enzyklopädie von Damien Bador, Vivien Stocker, Coralie Potot und Dominique Vigot, verspricht eine übersichtliche Zusammenstellung von Informationen rund um Der Hobbit, die sich auf verschiedene Stellen in Tolkiens Legendarium verteilen. Diese Rezension spiegelt die Meinung vom Autor wider.
Vor mir liegt ein wunderschönes Buch.
Das Titelbild auf dem schwarzen Hardcover zeigt den Ausblick aus einer Höhle in einen geheimnisvollen Wald. Ein Zauberer geht an der Höhle vorbei. Ich werde von einem goldroten Auge beobachtet. Ein wenig bedrohlich. Vielleicht das Auge eines Wargs? Ich schlage das Buch auf und bin in Mittelerde.
Der Titel ist in goldenen Buchstaben vertieft eingelassen. Das Buch fühlt sich gut an. Es hat ein rotes Lesebändchen. Mein Exemplar hat den wählbaren Farbschnitt. Dieser zeigt oben und unten eine drachenähnliche Verzierung und an der Seite Bilbo, die Zwerge und Gandalf. Die Farbe des Schnitts erinnert an Pergament, und die Seiten fühlen sich auch fast so an.
Jede einzelne pergamentfarbige Seite trägt wunderschöne Ornamente. Die Schrift ist besonders ausgewählt, sieht geheimnisvoll aus. Überschriften und wichtige Texteinschübe sind in roter Farbe gestaltet.
Das Buch ist voller Grafiken und Bilder (teils in Farbe), die einen mitnehmen in die von uns Tolkien-Fans geliebte Fantasiewelt. Teils sind das Darstellungen von Wesen wie Zwergen, Hobbits, Elben oder Orks. Teils sind es Darstellungen von Szenen aus dem Hobbit oder dem Herrn der Ringe. Manchmal zeigen sie interessante Details, manchmal verführen sie zum Träumen.
Es ist mit Sicherheit eines der schönsten Bücher, die ich in den letzten Jahren in den Händen gehalten habe. Wirklich beeindruckend.
Ich spüre die Liebe der Menschen, die dieses Buch gestaltet haben.
Vor mir liegt „Tolkiens Legendarium − Die große Hobbit-Enzyklopädie“ aus dem Verlag Zauberfeder von Damien Bador, Coralie Potot, Vivien Stocker und Dominique Vigot.
Eine Enzyklopädie also...
Eine Enzyklopädie ist das vollständige bekannte Wissen zu einem Thema. Nichts weniger erwarte ich natürlich von einer großen Enzyklopädie.
Ich habe mehrere Menschen, die von Tolkien mindestens den Hobbit oder den Herrn der Ringe gelesen haben, gefragt, was sie von einer Hobbit-Enzyklopädie erwarten. Die Antworten waren eindeutig und bestätigten meine eigene Erwartungshaltung. In diesem Buch werden wir alles über Hobbits erfahren. Jede kleinste Kleinigkeit: Namen, Stammbäume, Gewohnheiten, wie sie ihre Pfeifen stopfen, wie sie ihr Bier brauen, alles über ihre bekannten Abenteuer, und und und… eventuell in alphabetischer Reihenfolge – ein Nachschlagewerk zum Thema Hobbits, das nichts vermissen lässt.
Und tatsächlich: Genau das ist es nicht.
Es ist keine Enzyklopädie über Hobbits.
Es ist eine Enzyklopädie über das Buch Der Hobbit.
Das überrascht. Der Titel ist also etwas verwirrend.
In der Einführung wird mir das dann erklärt: „Mit dieser Enzyklopädie möchten wir die Früchte all unserer Lektüren, Recherchen und immer wieder neuen Entdeckungen rund um Tolkiens einfachsten Heldenroman, den Hobbit, teilen.“
Gut, darauf freue ich mich auch, denn die Autorinnen und Autoren sind Menschen, die sich intensiv mit den Werken Tolkiens beschäftigt haben.
Aus der Pressemitteilung von Zauberfeder erfahre ich:
„Damien Bador und Vivien Stocker gehören zum französischen Verein Tolkiendil, der das literarische Werk von Tolkien fördert. Coralie Potot engagiert sich ehrenamtlich für das französische Portal Tolkien et Terre du Milieu auf der Online-Enzyklopädie von Wikipédia. Dominique Vigot ist für den Tolkien-Bereich des französischen Vereins Elbakin.net verantwortlich. Alle vier haben außerdem am Dictionnaire Tolkien mitgewirkt, das von Vincent Ferré im CNRS-Verlag herausgegeben wurde, und sind Co-Autoren der Monde des Hobbits (erschienen im Verlag Pré aux Clercs).“
Wie so ein Buch wohl aufgebaut ist?
Das Buch ist eine Sammlung von 89 Artikeln. Es gibt neben den oben aufgeführten Autorinnen und Autoren noch zwölf weitere. Mich hat der Begriff „Artikel“ etwas gewundert, doch so werden sie im Buch genannt.
Gegliedert ist das Ganze in sieben Themenbereiche: Charaktere, Völker, Sprachen und Schriften, Gegenstände und Bauten, Orte des Geschehens, Bedeutende Ereignisse, Inspiration und Einflüsse. Es folgen noch Verzeichnisse, das bin ich als Tolkien-Leser ja gewohnt – man könnte sagen, ich bin süchtig nach Verzeichnissen…
Innerhalb der Themenbereiche sind die Artikel alphabetisch geordnet.
Die einzelnen Artikel beginnen mit einem Zitat, meistens aus dem Hobbit. Es folgt eine Einordnung des Charakters, des Gegenstands usw. in die Handlung des Hobbit. Diese Handlung wird dann wie in einer Inhaltsangabe nacherzählt und anschließend mit anderen Werken Tolkiens verknüpft. Abschließend findet sich oft eine Einordnung in die Werksgeschichte oder es gibt noch Hinweise darauf, was Tolkien inspiriert haben könnte. Die Quellenangaben zum jeweiligen Artikel werden in den Verzeichnissen aufgelistet.
Bei Themen, die nicht besonders ergiebig sind, wird schnell abgeschweift. So erfahren wir in „Azog und Bolg“ mehr über die Zwergenkönige als über die beiden Orks.
Es gibt auch einen Artikel über „Legolas“. Nanu? Der kommt doch im Hobbit gar nicht vor? Nehmen die etwa Bezug auf die Filme? Nein. Im Text steht: „Legolas taucht nicht in Bilbos Geschichte auf, doch er ist der Sohn des Königs Thranduil und deshalb wahrscheinlich anwesend, als Bilbo und die Zwerge bei den Elben sind.“
Was erfahre ich in den Artikeln?
Exemplarisch schaue ich in den Artikel „Bilbo Beutlin“.
Ich erfahre ein wenig über seine Eltern und dass Bilbo sein Leben in einem Smial führt. Was ein Smial ist, wird an dieser Stelle leider nicht erklärt. Im Hobbit steht das auch nicht. Es wird im Herrn der Ringe (Über Hobbits) erklärt. Das ist unpraktisch. Gut, dass ich den Herrn der Ringe gelesen habe.
Danach bekomme ich auf ca. zweieinhalb Seiten eine Inhaltsangabe des Hobbit, einen Ausblick auf Elronds Rat und die Vernichtung des Rings durch Frodo. Dann noch schnell eine Herleitung des Namens Baggins… Ganz schön viel Stoff für so wenige Seiten. Es lässt mich atemlos zurück.
Spoiler: Es wird nicht die letzte Inhaltsangabe des Hobbit in dieser Enzyklopädie sein. Eine weitere ist zum Beispiel der Artikel „Die Reise zum Erebor“ (3 Seiten). Die einzelnen Artikel bauen nicht aufeinander auf. Sie stehen eher nebeneinander.
Inhaltliche Überschneidungen kommen häufig vor. Daher ist es mühsam, das Buch kontinuierlich von Anfang bis Ende zu lesen. Besser wäre es, sich einfach den Artikel auszusuchen, der im Moment gerade von Interesse ist.
Die Inhaltsangaben sind häufig ein wilder Ritt durch das Legendarium. Der Artikel „Die Plünderung von Doriath“ (2 Seiten) ist gespickt mit Namen und Begriffen. Wer das Silmarillion nicht kennt, wird sich etwas verloren vorkommen.
Kein Buch für Einsteiger?
Auch in den Artikeln über Orte des Geschehens gibt es einige wilde Ritte durch das Legendarium. Im Artikel „Rohvanion“ hören wir auf vier Seiten nicht nur Fakten über geografische Lage und Namensherkunft, sondern auch über Entfrauen, die Erbauung Thranduils unterirdischen Palasts, Schiffskönige, Wagenfahrerkriege, Balrog, Nekromant, Eorl, Saurons Angriff auf Gondor im Ringkrieg. Der Text schließt ab mit Galadriels Scheiden aus Mittelerde. Diese Themen werden so komprimiert abgearbeitet, dass Vorwissen nötig ist. Oder guter Wille.
Wenige Widersprüche
Manchmal widersprechen sich die Inhalte auch: Im Artikel „Carc und Roac“ erfahren wir, dass Raben neben Drachen und Adlern „in Mittelerde die einzigen sprechenden Tiere sind“. Im Artikel „Spinnen“ lernen wir: „Sie (die Spinnen) sind intelligente Wesen und können sprechen.“ Spinnen sind ja keine Insekten, sondern (Achtung) Spinnentiere. Aber ob Drachen Tiere sind?
Widersprüche sind aber sehr seltene Ausnahmen.
Wenn mir Formulierungen, Übersetzungen oder die Wiedergabe von Ereignissen seltsam vorkamen, habe ich sie, so gut ich konnte, überprüft. Manchmal – ich gebe es zu – mit fremder Hilfe.
Hier gern ein Beispiel:
Auf Seite 137 steht: „Trolle, oder Torog in Sindarin (…).“ Hier kam mir der Plural sonderbar vor. Also habe ich mich bei einem Weisen von Mittelerde erkundigt, und es ist so:
Troll = Torog und Trolle = Teryg.
Denn im Sindarin wird aus einem o im Singular ein e beziehungsweise in der letzten Silbe ein y.
Ob man das Buch dermaßen nerdig hinterfragen soll? Ich weiß es nicht.
Erkenntnisse gibt es viele.
Im Artikel „Hobbits“ wird deren Größe mit 60 bis 120 Zentimetern angegeben. Irgendwie hatte ich 90 bis 120 Zentimeter im Kopf, also habe ich das überprüft.
Im Herrn der Ringe (Über Hobbits) wird die Größe mit zwei bis vier Fuß angegeben. Ein Fuß entspricht ungefähr 30 Zentimetern. Also ist die Angabe im Text richtig. Und das fand ich spannend: Der Unterschied in der Größe der verschiedenen Hobbits ist beträchtlich. Manche Hobbits waren also doppelt so groß wie andere. Das hatte ich so gar nicht in meiner Fantasie abgespeichert. Peter Jacksons Filme prägen doch sehr, und die Enzyklopädie konnte meine Fantasie nochmals bereichern.
Eine Einladung zur Diskussion...
Es gibt bei Tolkien eine Menge Dinge, die man so oder so sehen kann. (Ich kenne Menschen, die würden dem widersprechen.) Darauf wird in der Enzyklopädie auch an einigen Stellen hingewiesen.
Manchmal legen sich die Autorinnen und Autoren auch bei umstrittenen Themen fest. Hier zwei Bespiele:
- Balrogs haben Flügel. (Seite 181)
- Die Zwerge haben Thingol ermordet. (Seite 151)
Hut ab vor diesem Mut. Das sind wirklich zwei kontrovers diskutierte Thesen.
Im Herrn der Ringe steht meines Wissens nichts darüber, dass ein Balrog Flügel hat. Aber es gibt wohl eine Mitschrift eines Vortrags von Tolkien? Und die Zwerge würden wohl nicht von einer Ermordung Thingols sprechen, oder?
Keine Karten – schade.
Im Themenbereich „Orte des Geschehens“ werden sehr genaue Beschreibungen gegeben. Vieles könnte man sich mit einer Karte besser vorstellen. Da wesentlich mehr Orte und Gegenden beschrieben werden, als im Hobbit vorkommen, wären Karten von Beleriand und Mittelerde hilfreich.
Die Stärken des Buchs
Was mich wirklich begeistert hat, ist der Themenbereich „Inspiration und Einflüsse“. Da habe ich auf wenigen Seiten sehr viel gelernt.
Im Artikel „Edda“ erfahre ich von möglichen Inspirationen: Verfluchtes Zwergengold (Mim der Kleinzwerg?); sieben Söhne des Königs müssen bekämpft werden (Feanors Söhne?); Inzestliebe (Turin?); Odins zerbrochenes Schwert wird neu geschmiedet (Anduril − Flamme des Westens?); die Sprache der Vögel wird verstanden (Raben des Erebor?). Das finde ich wirklich spannend.
Die weiteren Artikel dieses Themenbereichs sind ähnlich interessant. Sehr gut.
Und nun? Was ist mein Fazit?
Ich kenne Menschen, die kaufen sich eine fünfte oder sechste Ausgabe des Hobbit nur deshalb, weil die Ausgabe neue Grafiken enthält. Für diese Menschen ist die Enzyklopädie interessant.
Ich kenne Menschen, die haben sich jahrzehntelang mit Tolkiens Legendarium beschäftigt. Bereits eine einzige neue Erkenntnis macht sie glücklich. Für diese Menschen ist die Enzyklopädie interessant.
Ich kenne Menschen, die lieben es, kleine Widersprüche aufzudecken und mit anderen zu diskutieren. Für diese Menschen ist die Enzyklopädie interessant.
Ich kenne Menschen, die schauen sich gern schöne Bilder an, weil es sie inspiriert und glücklich macht. Für diese Menschen ist die Enzyklopädie interessant.
Ich kenne Menschen, die sammeln alles, wo „Tolkien“ draufsteht. Für diese Menschen ist die Enzyklopädie interessant. Sie brauchen sie sogar zweimal: mit und ohne Farbschnitt.
Ich kenne Menschen, die freuen sich, wenn sie etwas lesen, was sie schon wissen (so wie Hobbits). Für alle Hobbits ist die Enzyklopädie interessant.
Ich habe nicht verheimlicht, dass dieses Buch auch Schwächen hat. Doch es gelesen zu haben und die schönen Bilder zu betrachten, war schön. Die Enzyklopädie ist auch für mich interessant.
Credits:
Fotos: Tobias M. Eckrich
Text: Oliver Brunhuber