Warum es falsch und irreführend ist Tolkiens Werke eine „Mythologie für England“ zu nennen

Ruins of the Corfe castle at beautiful sunrise in County Dorset - Patryk Kosmider (AdobeStock: #115720661)

Dieser Artikel von Dr. Luke Shelton erschien ursprünglich auf Englisch unter dem Titel „Why Calling Tolkien’s Work “A Mythology for England” is Wrong and Misleading“. Der Text wurde von Maria Zielenbach übersetzt. Wir danken Luke Shelton und Dimitra Fimi für die freundlichen Genehmigung der Übersetzung des Textes und der Zitate.

Die Idee, dass Tolkien eine „Mythologie für England“ erschaffen wollte ist immer noch eine populäre Annahme unter Fans und es muss klargestellt werden (und, um ehrlich zu sein, auch populär gemacht werden), dass dies nicht länger die vorherrschende Meinung unter Forschenden ist.

Jason Fisher weist im Eintrag „Mythologie für England“ in der J.R.R. Tolkien Encyclopedia darauf hin, dass „[d]ies sicherlich das meistzitierte Zitat sein [muss], dass Tolkien tatsächlich nie gesagt hat“ (S. 445).

Um die Quelle dieser Phrase zu finden muss man in Humphrey Carpenters Biographie über Tolkien schauen. Die Idee einer „Mythologie für England” kommt an zwei Stellen vor. Zuerst beschreibt Carpenter folgendes:

„Tolkien hielt vor einem Verein an seinem College einen Vortrag über das Kalevala, und darin begann er über die Bedeutung jener Art von Mythologie zu sprechen, die sich in den finnischen Heldenliedern findet. »Diese mythologischen Balladen«, sagte er, »sind voll von jenem höchst ursprünglichen Unterholz, das in der europäischen Literatur insgesamt über viele Jahrhunderte hin immer mehr beschnitten und verdrängt wurde, in den einzelnen Völkern jeweils etwas früher oder später und mehr oder weniger vollständig.« Und er fügte hinzu: »Ich wünschte, wir hätten noch mehr davon - etwas von der gleichen Art, das uns Engländern angehörte.« Ein erregender Gedanke, und vielleicht dachte er auch schon daran, diese Mythologie für England selber zu schaffen.“
Humphrey Carpenter
J.R.R. Tolkien: Eine Biographie. S. 82

Die zweite Erwähnung erfolgt ein wenig später, wenn Carpenter den jetzt berühmten Brief an Milton Waldman erwähnt, aus dem ich später zitieren werde. Für den aktuellen Kontext reicht es aus, zu wissen, dass Carpenter den Auszug aus dem Brief wie folgt einleitet:

„Und noch ein Drittes spielte eine Rolle: der Wunsch, eine Mythologie für England zu schaffen. Er hatte dies schon in seiner Studentenzeit angedeutet, als er über das finnische Kalevala schrieb: »Ich wünschte, wir hätten noch mehr davon, etwas von der gleichen Art, das uns Engländern angehörte.« Dieser Gedanke wuchs in ihm, bis er gewaltige Ausmaße annahm. So formulierte es Tolkien, als er viele Jahre später darauf zurückblickte“
Humphrey Carpenter
J.R.R. Tolkien: Eine Biographie S. 121-122

Lasst uns genauer in diesen Brief an Milton Waldman schauen. Hier ist der relevante Abschnitt:

„Lachen Sie nicht! Es gab aber eine Zeit (seither bin ich längst kleinlauter geworden), da hatte ich vor, eine Sammlung von mehr oder weniger zusammenhängenden Sagen zu schaffen, die von den großen, kosmogonischen bis hin zum romantischen Märchen reichen sollten - die größeren auf den kleineren aufruhend, den Boden berührend, die kleineren um den Glanz des weiten Hintergrundes bereichert -, ein Werk, das ich einfach meinem Lande, England, widmen könnte. Es sollte im Ton und Charakter so sein, wie ich es mir wünschte, ein wenig kühl und klar, mit einem heimischen Anhauch (vom Himmel und der Erde des Nordwestens, das heißt Englands und der hiesigen Teile Europas, nicht Italiens oder der Ägais und schon gar nicht des Ostens); und zwar sollte es (wenn es mir dies gelänge) die helle, ungreifbare Schönheit besitzen, die manchmal „keltisch“ genannt wird, obwohl sie sich in echten altkeltischen Dingen nur selten findet, aber doch „erhaben“ sein, vom Niedrigen gereinigt und dem erwachseneren Geist eines lange in Poesie gewiegten Landes gemäß. Ich wollte manche der großen Erzählungen ganz ausführen, für viele andere aber nur ihren Platz im Zusammenhang bestimmen und es bei Skizzen belassen. Die Zyklen sollten zu einem majestätischen Ganzen verbunden sein und doch für andere Geister und Hände Raum lassen, die Farbe, Musik und Drama hinzutun könnten. Absurd!“
J.R.R. Tolkien
Brief Nr. 131, S. 192

Der erste Teil des Abschnitts klingt so, als würde Tolkien der Phrase „Mythologie für England“, die seinem Werk angehängt wurde, tatsächlich zustimmen. Aber, die ganze Idee ist in einer Sprache formuliert, die der Idee entgegensteht: „Lachen Sie nicht! … Absurd!“ Das weist darauf hin, dass Tolkien nicht länger so einen Mythologie erschaffen wollte, oder zumindest die Mythologie, die er erschuf, nicht länger als mit England verbunden ansah.

Fairerweise muss man, wie Verlyn Flieger immer wieder warnt, Beachtung schenken, an wen Tolkien einen Brief schreib. In diesem Fall war es Milton Waldman, ein Verleger, den Tolkien davon überzeugen wollte den Herrn der Ringe und Das Silmarillion zu veröffentlichen.

Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass ein*e eifrige*r Leser*in der Briefe den nicht abgesendeten Brief an Mr. Thompson aus dem Jahr 1956 finden wird, in dem Tolkien den oben erwähnten Wunsch auch darstellt, und sein Wunsch scheint dort nicht so ruhend zu sein wie im Brief an Waldman. Das ist eine weniger wertvolle Evidenz, weil wir nicht wissen, wer der Empfänger sein sollte und Tolkien den Brief nie abschickte. Das bedeutet, dass er in einem Prozess des Überdenkens seiner Meinung gewesen sein könnte.

Verlyn Flieger diskutiert den Brief an Walman in der Einleitung zu Splintered Light: Logos and Language in Tolkien’s World. Sie versteht Beginn und Ende als Hinweis auf “eine auf Lächerlichkeit vorbereitete Sensibilität“ and meint, dass Leser*innen dennoch annehmen sollten, dass Tolkien „[…]nicht dachte, sein Traum sei Unsinn oder seine Ambitionen absurd, sondern dass er beides in der Tat sehr ernst nahm“ (Flieger, S. xiv). Viele andere Forschende haben ähnliche Behauptungen und Beobachtungen geäußert.

Die vielleicht erwähnenswerteste Wissenschaftlerin, welche die Idee der „Mythologie für England“ vertreten hat, war Jane Chance. In ihrem Buch Tolkien’s Art: A Mythology for England gibt sie an, das oberste Argument ihres Buches sei, dass „Tolkien wünschte eine allumfassende Mythologie zu konstruieren, die in all seinen publizierten fiktionalen Werken verankert war, mit Ausnahme der Märchen und seinen mittelalterlichen Parodien“ (Chance, S. vii). Ihrem ganzem Unterfangen liegt diese Vorstellung von Tolkiens Werk zugrunde.

Literaturwissenschaft ist jedoch sowohl eine Kunst als auch eine Wissenschaft. Es ist eine Kunst, weil wir es mit Ungenauigkeiten und Ungewissheiten zu tun haben. Wir können niemals sicher sein, was ein*e Autor*in „wirklich gemeint hat“, denn wir müssen uns immer auf Worte, ein unvollkommenes Medium, verlassen, um Meinungen zu kommunizieren. Es ist eine Wissenschaft, weil sie neue Informationen anspricht und aufgreift, um unser Verständnis zu erneuern und zu verbessern.

In letzter Zeit haben Forschende angefangen, die oben erwähnte Perspektive auf Tolkiens Werk zu hinterfragen.

Der erste, der Carpenters Gebrauch der Phrase „Mythologie für England“ hinterfragt hat, war Anders Stenström. In seinem Artikel „A Mythology? For England?” stellt Stenström fest, dass Tolkien diese Phrase nie in seinen eigenen Schriften gebraucht hat. Stattdessen wurde sie zuerst in Carpenters Biographie über Tolkien verwendet. Unglücklicherweise, da die Phrase in Anführungszeichen gesetzt wurde, schien es als stamme sie ursprünglich von Tolkien.

Ich möchte besonders auf die Arbeiten von Dimitra Fimi hinweisen. Ihr Buch Tolkien, Race and Cultural History ist essential für angehende Tolkien-Forschende, da es einen Dreh- und Angelpunkt für die moderne Tolkien-Forschung darstellt.

In einer der brillanten Analysen in ihrem Text folgt Fimi der Entwicklung von Rahmenhandlungen in Tolkiens Werken. Sie zeigt auf, dass Tolkien verschiedene Rahmenhandlungen in verschiedenen Erzählungen ausprobierte, einschließlich Zeitreisen in The Notion Club Papers, und so weiter. Diese früheren Rahmenhandlungen erlaubten es Tolkien Mittelerde zu einer Mythologie für England zu machen:

„Dieser „Rahmen“ [Zeitreisen] würde die Mythologie immer noch „zugehörig“ zu England machen, da die zugrundeliegende Idee war, dass Zeitreisen durch Träume auf das kollektive Unterbewusstsein von modernen englischen Nachfahren zugreifen könnten. Durch die Verwendung dieses erzählerischen Mittels wäre das Legendarium immer noch einen „Mythologie für England“.
Dimitra Fimi
Tolkien, Race and Cultural History: From Fairies to Hobbits S. 129

Sie fährt fort auszuführen, wie Tolkien davon abkam Zeitreisen als Handlungsrahmen zu verwenden. Schlussendlich diskutiert sie das Rote Buch als Handlungsrahmen für den Herrn der Ringe, anstelle anderer Handlungsrahmen. Sie endet mit dieser brillanten Zusammenfassung:

„Tolkien entschied sich am Ende gegen diesen Rahmen [Zeitreisen] und die Verbindung des Legendariums mit England verschwand praktisch.“
Dimitra Fimi
Tolkien, Race and Cultural History: From Fairies to Hobbits S. 129

Stattdessen „wurde das „Silmarillion“ als mythische und sagenhafte Geschichte des Ersten und Zweiten Zeitalters von Mittelerde – eine halb fiktionale Welt, die lose auf Nordeuropa basiert – angelegt, nicht als die lange vergessene Sagenwelt Englands, wie es im Buch der Verschollenen Geschichten oder den Notion Club Papers beabsichtigt gewesen war“ (Fimi, S. 129).

Weiter diskutiert Fimi die möglichen Gründe, warum Tolkien sich zu dieser Änderung entschied:

„Tolkiens Nationalismus hatte sich zum einen abgeschwächt… im Buch der Verschollenen Geschichten lag der Fokus auf Englands angelsächsischer Vergangenheit, im Gegensatz zu den „britischen“ und „keltischen“ Traditionen von Wales und Irland. In den 1950ern hatte dieser Gegensatz seine Bedeutung verloren. Ich habe anderswo […] Tolkiens kompliziertes Verhältnis zu “keltischen Dingen“ untersucht: wie sie gleich zu Beginn in sein Legendarium einflossen, wie sie später bewusst mit der angelsächsischen Tradition verknüpft wurden und wie Tolkiens Projekt schließ zu einer „Mythologie für Britannien“ statt „einer Mythologie für England“ wurde. Die angelsächsische Bewegung verschwand auch praktisch nach dem Ersten Weltkrieg. Das Moment des englischen Nationalismus, der entstand als der Rest Europas nach der Seele des Volkes suchte, war vorüber und in der Periode zwischen den Kriegen wurde „Englishness“ verstärkt mit den einfachen Wegen auf dem englischen Land statt mit glorifizierten angelsächsischen Vorfahren assoziiert. Tolkiens Hobbits und ihre provinzielle „Englishness” kann als Bewegung hin zu dieser Darstellung Englands gesehen werden.“
Dimitra Fimi
Tolkien, Race and Cultural History: From Fairies to Hobbits S. 129

Anders gesagt probierte Tolkien verschiedene Rahmenhandlungen für den Herrn der Ringe aus, die es ihm erlauben würden ihn als „Mythologie für England“ darzustellen. Statt jedoch eine von ihnen zu gebrauchen, entwickelte er das erzählerische Mittel des Roten Buches und benutzte dieses. Diese Entscheidung löste die Verbindung und schaffte eine selbstständige Mythologie, die von England und seiner Geschichte losgelöst ist.

Dieser kleine Auszug wird der Breite und Tiefe von Fimis meisterhaften und überzeugende Analyse nicht gerecht. Seitdem ihr Buch erschienen ist (und ich sollte erwähnen, dass es 2010 den Mythopoeic Scholarship Award der Mythopoeic Society gewonnen hat), hat es die Art revolutioniert, wie Forschende Tolkiens Werke beschreiben. Die meisten haben die Phrase „Mythologie für England“ verworfen und jene, die sie immer noch verwenden, tun es mit Bedacht oder mit Verweis auf frühere Literatur um zu kontextualisieren, dass sie aus einem bestimmten Grund über ein überholtes Konzept sprechen.

Leider hat Fimis Analyse nicht dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, wie die Bücher anderer namhafter Forschenden wie John Garth oder Tom Shippey. [Anmerkung der Übersetzerin: Im Gegensatz zu den Büchern von Garth und Shippey wurde es auch nicht auf Deutsch übersetzte.] Das hat vielleicht zu einer der größten Brüche zwischen Tolkien-Fandom und -Forschung geführt.

Viele Fans glauben immer noch das Konzept von der „Mythologie für England“ sei eine treibende Kraft für Tolkien gewesen, und das liegt größtenteils daran, dass die neuere Forschung ihnen unbekannt ist. Die Gründe für diesen Bruch sind vielfältig und kompliziert und würden ehrlich gesagt einen weiteren, noch längeren Blogpost erfordern.

Vorerst schließe ich mit der Ermutigung an alle Leute aufzuhören zu sagen, dass Tolkien sein Geschichten als „Mythologie für England“ geschrieben habe. Ich möchte auch alle, die diesen Artikel gelesen haben, ermutigen Dimitra Fimis Buch zu lesen. Es ist wirklich eine der besten Untersuchungen über Tolkiens Werke, die zurzeit vorliegt.

Quellen:

  • Carpenter, Humphrey. 1979. J.R.R. Tolkien: Eine Biographie. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Chance, Jane. 2001. Tolkien’s Art: A Mythology for England, rev. edn. Lexington, KY: University Press of Kentucky.
  • Fimi, Dimitra. 2010. Tolkien, Race and Cultural History: From Fairies to Hobbits. New York: Palgrave Macmillan.
  • Fisher, Jason. 2013. “Mythology for England.” in Drout, Michael D.C. 2013. J.R.R. Tolkien Encyclopedia: Scholarship and Critical Assessment. pp. 45-447.
  • Flieger, Verlyn. 2002. Splintered Light: Logos and Language in Tolkien’s World, rev. edn. Kent, Ohio: Kent State University Press.
  • Stenström, Anders. 1992. “A Mythology? For England?” in Patricia Reynolds and Glenn H. GoodKnight.1992. Proceedings of the Tolkien Centenary Conference 1992. pp. 310-314.
  • Tolkien, J.R.R. 2002. J.R.R. Tolkien: Briefe, Hrsg. Humphrey Carpenter. Stuttgart: Klett-Cotta.

Credits:

Titelfoto: Patryk Kosmider (AdobeStock: #115720661)

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