Tolkien: Maker of Middle-earth – Der Mensch hinter den Werken

Oxford - Bodleian Library - Tobias M. Eckrich

Ein bisschen verrückt ist es vielleicht schon, nur (oder jedenfalls hauptsächlich) für eine Austellung nach Oxford zu reisen. Insbesondere, wenn – laut Website des Veranstalters, der Bodleian Library – der Besuch bereits nach 30-45 Minuten vorbei ist. Lange habe ich überlegt und gerechnet, ob sich das wirklich lohnt. Ausführliche Berichte begeisterter Tolkienisten, die bei der Entscheidung geholfen hätten, konnte ich nicht finden. Anfang September habe ich mich dann doch zu der Reise durchgerungen – und kann nun klar sagen: Es lohnt sich auf jeden Fall. Für alle, die immer noch unsicher sind, folgt hier der Erfahrungsbericht, den ich gern vorher gelesen hätte…

Was erwartet mich?

Die Ausstellung verspricht die umfangreichste Zusammenstellung von Originalmaterialien, die seit den 1950ern der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Wer nun befürchtet, die Macher verlassen sich ganz auf den Lockruf des Namens “Tolkien”, kann beruhigt sein. Die unterschiedlichen Ausstellungsstücke – Briefe, Fotografien, Skizzen und Bilder, Karten, Manuskripte und persönliche Besitztümer – sind ausgesprochen liebevoll zusammengestellt und in verschiedenen Themenbereichen arrangiert, etwa “Kindheit”, “Das Arbeitszimmer des Professors” oder “Tolkien-Rezeption”. Immer wieder finden sich Details zum Staunen und Schmunzeln – etwa wenn Tolkiens Mutter im fernen Südafrika den Verwandten in England für die niedlichen Kinderkittelchen dankt und ihnen schreibt, der kleine Ronald sehe darin ganz wie ein Elb aus. Oder wenn Jahrzehnte später ein gewisser Terence Pratchett seine Begeisterung für den Schmied von Großholzingen kundtut und fragt, ob denn Das Silmarillion wohl bald veröffentlicht wird. Oder wenn die damalige Kronprinzessin Margarethe von Dänemark dem verehrten Autor ihre Illustrationen – heute würde man von Fanart sprechen – zusendet.

Menschliches und Melancholie

Andere Exponate wiederum stimmen nachdenklich. Da schreibt beispielsweise der vierjährige “Wanild Toekin” seinem “dearest Daddy” und freut sich auf das Wiedersehen nach einjähriger Trennung. Noch bevor der Brief abgeschickt werden konnte, erreichte die Familie die Nachricht vom Tod des Vaters. Beklemmend ist auch ein Foto aus Studententagen. Stolz posieren junge Männer vor der eindrucksvollen Fassade von Exeter College. Darunter findet sich das gleiche Bild noch einmal – doch diesmal sind nur die Hälfte der Studenten zu erkennen, diejenigen, die nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt sind. Da betrachtet man die Thematik von Verlust und Vergänglichkeit, die sich bittersüß durch den Herrn der Ringe und mehr noch Das Silmarillion zieht, gleich mit anderen Augen.

Der Künstler am Werk

Die Details sind es auch, die die ausgestellten Manuskripte und Bilder so interessant machen. Natürlich sind viele der Bilder bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden – aber es ist etwas ganz anderes, sie im Original betrachten zu können. Die Abdrucke in den (durchaus gelungenen) Büchern von Christina Scull und Wayne G. Hammond etwa lassen nicht den ganzen Detailreichtum erkennen, der tatsächlich in den Illustrationen zum Hobbit, den Entwürfen für elbische Wappen und den abstrakten Bildern aus dem Book of Ishness steckt. Ein Talent fürs Abstrakte zeigen auch die spontanten Kritzeleien in bunter Tinte rund um die (vollständig gelösten) Zeitungs-Kreuzworträtsel, die Tolkien kurzerhand zu númenórischen Ornamenten erklärte. Notizen in verschiedenen elbischen Schriftsystemen zeigen, wie ernsthaft Tolkien sich mit seinen erfundenen Sprachen beschäftigte – von diversen Entwürfen für den Ringspruch bis zum Brief Aragorns an Bürgermeister Samweis, der ursprünglich für die Veröffentlichung in den Anhängen des Herrn der Ringe gedacht war. Die Zeitachse, anhand derer er den Überblick behielt, was die unterschiedlichen Gefährten im Verlauf von Die zwei Türme zeitgleich erleben, veranschaulicht ebenso, wie unglaublich viel Arbeit, Zeit und geistige Energie in der gar nicht als Trilogie geplanten Trilogie stecken. Einblicke in Tolkiens akademisches Werk machen deutlich, dass Beruf und “heimliches Laster” eng miteinander verbunden waren und sich gegenseitig beeinflussten – auch wenn die beruflichen Pflichten gelegentlich darunter litten, wie Tolkien in einem Brief von 1937 selbst bedauernd feststellte: „Writing stories in prose and verse has been stolen, often guiltily, from time already mortgaged.“ („Das Verfassen von Geschichten in Prosa oder Versen habe ich mir, oft schuldbewusst, von ohnehin schon geliehener Zeit gestohlen“).

 Die Früchte der Arbeit

Wer weniger begeisterungsfähig für die Zeugnisse des tolkienschen Arbeitsprozesses ist und sich eher für das Ergebnis desselben interessiert, kommt aber ebenfalls auf seine Kosten. So bietet die Ausstellung eine beleuchtete 3D-Reliefkarte von Mittelerde, auf der sich die Reiserouten der Gefährten und andere geographische Einzelheiten digital darstellen lassen. An zwei Audio-Stationen kann man elbische Grundkenntnisse erwerben und auch gleich testen lassen oder sich anhören, wie Tolkien selbst seine elbischen Gedichte intoniert. Tolkiens eigene Bilder zum Hobbit und die Entwürfe für die Buchumschläge zum Herrn der Ringe zeigen eine teils ganz andere Vision von Mittelerde als die bekannteren Interpretationen aus den Verfilmungen oder von populären Tolkien-lllustratoren wie Alan Lee oder Ted Nasmith. Eine verspieltere Seite zeigt sich in den Illustrationen, die Tolkien für seine Kinder anfertigte – von den Briefen vom Weihnachtsmann über die Abenteuer des Herrn Glück bis hin zur aufwändigen Unterwasser-Szenerie aus Roverandom.

Generationenübergreifend

Die Liste der besonders interessanten Exponate ließe sich beliebig fortsetzen. So wird es auch niemanden überraschen, dass ich natürlich nicht schon nach 45 Minuten mit dem Besuch fertig war. Die Frage, ob sich die verhältnismäßig lange Anreise lohnt, würde ich also ohne Zögern mit “ja” beantworten. Dem Team um Kuratorin Catherine McIlwaine ist eine Ausstellung gelungen, die für Tolkien-Fans unterschiedlicher Ausprägungen etwas zu bieten hat. Wer bisher wenig über die Hintergründe von Tolkiens Werken wusste, bekommt hier eine Menge Expertenwissen mit auf den Weg. Wer sich schon vorher zu den Experten zählen konnte, wird sich für die vielen Kleinigkeiten begeistern. Und wer bisher allenfalls oberflächlichen Kontakt mit Tolkiens Werken hatte, dürfte beeindruckt sein, wie viel es da unterhalb der Oberfläche zu entdecken gibt. Die Konzeption der Ausstellung erlaubt es den Besuchern, die Stationen im eigenen Tempo zu entdecken und nach Belieben eigene Schwerpunkte zu setzen. Entsprechend vielfältig stellt sich das Publikum dar. Aufgeregte Kinder mit ihren Eltern, Einzelreisende in den mittleren Jahren, japanische Reisegesellschaften, Studenten, Senioren – die Ausstellung zeigt wieder einmal, dass es den “typischen Tolkien-Fan” eigentlich gar nicht gibt. Diese Vielfalt macht den Besuch der Ausstellung noch schöner. Und Hand aufs Herz: Es ist einfach etwas Besonderes, das alles mal hautnah “in echt” betrachten zu dürfen.

Das Buch zum Besuch

Wer es trotzdem nicht nach Oxford schafft und sich auch nicht auf eine der bereits angekündigten oder erhofften Folgeveranstaltungen verlassen möchte, kann sich zumindest mit dem ebenfalls wunderbar gestalteten Ausstellungskatalog trösten – wenn Katalog denn das richtige Wort dafür ist. Auf satten 416 Seiten zeigt das großformatige Buch von Kuratorin Catherine McIlwaine sogar noch mehr Bilder von und über Tolkien, als in der Ausstellung zu sehen sind. Hinzu kommen Aufsätze von bekannten Tolkienforschern wie John Garth, Tom Shippey und Verlyn Flieger. Es handelt sich also durchaus um ein eigenständiges Referenzwerk, in dem man immer wieder gern blättern dürfte (siehe Info-Box).

Ab nach Oxford!

Wer es jedoch noch irgendwie einrichten kann, in den nächsten Wochen nach England zu reisen, dem sei diese Reise wärmstens ans Herz gelegt. Man sollte es natürlich nicht als Extra-Trip für einen kurzen Ausstellungsbesuch betrachten, sondern eher als Städtereise mit tolkieneskem Fokus. Oxford ist eine wunderschöne Stadt, in der es viel zu entdecken gibt. Neben dem Weston-Flügel, in dem die Tolkien-Ausstellung beherbergt ist, empfiehlt sich eine Führung durch die älteren Teile der Bodleian Library. Stadtführungen auf den Spuren der Inklings ermöglichen weitere Blicke hinter die Kulissen. Wer nicht gerade zu den Stoßzeiten in den von Tolkien, C.S. Lewis & Co hochgeschätzten “Eagle and Child”-Pub kommt, hat auch gute Chancen, dort einen Sitzplatz, ein leckeres Essen und die ein oder andere Pint zu bekommen. Die Preise sind trotz hohem Pilger-Faktor erfreulicherweise mit anderen Pubs zu vergleichen. Einen Besuch sind auch die großen Oxforder Museen und der Botanische Garten wert. Somit hat man dann auch ein volles Programm, das eine (verlängerte) Wochenendreise vollkommen rechtfertigt. Vielleicht hat ja auch jemand noch keine Pläne für die Herbstferien?

Logistisches

Der Eintritt zur Ausstellung ist kostenlos, aufgrund des bisweilen sehr hohen Andrangs braucht man aber ein Ticket. Es empfiehlt sich, das Ticket bereits vorher über die offizielle Webseite zu buchen, was eine Bearbeitungsgebühr von £1 kostet. Dafür kommt man ganz sicher im gebuchten Zeitfenster in die Ausstellung und muss nicht bangen, ob es noch genügend Eintrittskarten für den Tag gibt. Geöffnet ist die Ausstellung montags bis samstags von 10 bis 17 Uhr, sonntags von 11 bis 17 Uhr. Am 9. Oktober ist außerdem ein abendlicher Besuch von 17:30 bis 19 Uhr möglich. An einigen Tagen finden zusätzlich noch Vorlesungen statt, die sich mit Tolkiens philologischer Arbeit befassen. Auch für diese Veranstaltungen kann man Tickets über die Webseite buchen. Tolkien: Maker of Middle-earth ist noch bis zum 28. Oktober 2018 in der Weston Library zu sehen.

Eckdaten zum Buch

Format: Hardcover
Seiten: 416
Herausgeber / Autor: Catherine McIlwaine
Verlag: Bodleian Library, University of Oxford
Sprache: englisch
ISBN: 1851244859

Eckdaten zum Buch

Format: Hardcover
Seiten: 416
Herausgeber / Autor: Catherine McIlwaine
Verlag: Klett-Cotta
Sprache: deutsch
ISBN: 3608964029
Übersetzung: Helmut W. Pesch, Marcel Aubron-Bülles

Credits

  • Titelfoto: Oxford – Bodleian Library – Tobias M. Eckrich
  • Beowulf Typescript (MS. Tolkien A 29/1, fol. 66. © The Tolkien Trust 2018)
  • Bilbo comes to the Huts of the Raft-elves (MS. Tolkien Drawings 29 © The Tolkien Estate Limited 1937)
  • The Fire-writing (MS. Tolkien Drawings 90, fol. 39r © The Tolkien Trust 2015)
  • Buchcover: Bodleian Library Publishing

Quellen

  • Carpenter, Humphrey and J.R.R.Tolkien. “Letter 18” (S. 24). In: The Letters of J.R.R. Tolkien. London: Allen & Unwin 1981.
  • McIlwaine, Catherine. Tolkien: Maker of Middle-earth. Oxford: Bodleian Library Publishing 2018.

Alle englischen Zitate und Paraphrasen wurden von der Autorin dieses Artikels übersetzt.

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