Seit seiner Kindheit war J.R.R. Tolkien begeistert von Sprachen und dem Sprachenerfinden. Als er gerade in seinen Teenager-Jahren steckte, war eine erfundene Sprache in Europa gerade besonders populär: Esperanto. Schon oft wurde darüber spekuliert und geforscht, ob und wie Tolkien durch Esperanto zu seinen eigenen Sprachkreationen wie den elbischen Sprachen oder der Zwergensprache inspiriert wurde. Ein gerade erschienenes Buch widmet sich diesen Fragen.
J.R.R. Tolkien the Esperantist – Before the arrival of Bilbo Baggins (dt. J.R.R. Tolkien der Esperantist – Bevor Bilbo Beutlin erschien) ist ein wissenschaftlicher Sammelband mit Aufsätzen von Oronzo Cilli, Arden R. Smith & Patrick H. Wynne und Tim Owen sowie einem Vorwort von John Garth. Die Beiträge untersuchen Tolkiens Verhältnis zur Kunstsprache Esperanto. Dieses war, wie Garth es nennt, „kompliziert und wandelnd“. Die italienische Version des Buches erschien bereits 2015, der Beitrag von Oronzo Cilli wurde erstmals ins Englische übersetzt.
Eine kleine Geschichte des Esperanto
Der erste Aufsatz „1887-1937: 50 years of hope and optimism with particular reference to Great Britain“ stammt von Tim Owen, dem gegenwärtigen Sekretär der „Esperant Association of Britain“, und gibt im Wesentlichen einen allgemeinen Überblick über die Geschichte des Esperanto. Der Blickpunkt liegt dabei auf Großbritannien und der Entwicklung der Esperanto-Gemeinschaft bis 1937 – dem Jahr, in dem der Hobbit veröffentlicht wurde und das Owens als negativen Wendepunkt für das Esperanto ansieht.
Der Aufsatz ist vor allem für Leser interessant, die sich noch kaum mit Esperanto und seiner Geschichte beschäftigt haben, und hilft beim Verständnis der folgenden Beiträge.
Tolkien und Esperanto
Der zweite Aufsatz „Tolkien and Esperanto“ wurde bereits im Jahr 2000 von Patrick H. Wynne und Arden R. Smith in der Zeitschrift SEVEN: An Anglo-American Literary Review veröffentlicht und behandelt die sich wandelnden Ansichten Tolkiens über Esperanto. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem „Foxrook“, einem Notizbuch, das Tolkien 1909 im Alter von 16 Jahren anfertigte und das nicht nur eines der ältesten von Tolkien kreierten Alphabete enthält, sondern auch seine ältesten bekannten Versuche, in Esperanto zu schreiben. Des Weiteren werden die Belege für die anfängliche Zuneigung Tolkiens zu Esperanto analysiert. 1930 hielt Tolkien seinen Vortrag „A Secret Vice“, in dem er nicht nur seine „heimliche Leidenschaft“ für das Sprachenerfinden preisgab, sondern sich auch wohlwollend zum Esperanto äußerte. 1932 wurde Tolkien dann Mitglied im Ehrenbeirat („Board of Honorary Advisers“) der „British Esperanto Association“, obwohl er damals, wie er selbst sagt, gar kein Esperanto sprach.
Später wandelte sich Tolkiens Meinung über erfundene Sprachen, die ausschließlich zu Kommunikationszwecken entwickelt wurden. Nun war er der Ansicht, erfundene Sprachen benötigten einen mythischen Hintergrund, um wirklich zu „leben“. Dies war auch der vordergründiger Ansporn, seine Zweitschöpfung Mittelerde zu entwerfen. Mit dieser Auffassung Tolkiens setzen sich Wynne & Smith kritisch auseinander. So betonen sie die unterschiedlichen Ziele von Sprachen wie Esperanto und Tolkiens Kunstsprachen.
Eine Wiederveröffentlichung, zumal ohne Update, erscheint zunächst einmal etwas heikel. Allerdings ist die Zeitschrift SEVEN nicht ganz leicht zu bekommen. Der neue Abdruck ist im Kontext dieses Buches also durchaus sinnvoll.
Ein ganz neues Fundstück
Der Kernartikel des Buches ist der Aufsatz „Tolkien and the British Esperanto Movement“ von Oronzo Cilli. Cilli geht hier noch einen Schritt über die beiden vorangegangenen Aufsätze hinaus, indem er Tolkiens Engagement innerhalb der britischen Esperanto-Bewegung betrachtet. Erster Anhaltspunkt ist dabei Tolkiens Zeit bei den Pfadfindern, die Cilli als ersten Kontaktpunkt mit dem Esperanto ansieht.
Weitere Blickpunkte sind der Esperanto Weltkongress, der 1930 in Oxford stattfand und an dem Tolkien teilgenommen haben könnte, die Erwähnung Tolkiens unter den Schirmherren des 24. „British Esperanto Congress“ 1932, und das „Herzstück“ des Artikels: Tolkiens Unterschrift unter einem Dokument mit dem Namen „The Educational Value of Esperanto“. Dieses „Manifest“ wurde 1933 veröffentlicht und setzt sich für die Einführung von Esperanto als Unterrichtsfach ein. Tolkiens Name erscheint unter einer Vielzahl von anderen akademischen Würdenträgern. Auf das “Manifest” stieß Cilli im Zuge der Recherchen zu seinem Buch Tolkien e l’Italia, als er in alten Zeitschriften der Esperanto-Bewegung nach Spuren von Tolkien suchte. Der Fund unterstreicht nicht nur die Ausmaße des damaligen „Esperanto-Hypes“, sondern auch Tolkiens Wirken innerhalb der Esperanto-Bewegung.
Fazit: Eine wissenschaftliche Detektivgeschichte
J.R.R. Tolkien the Esperantist liest sich beinahe wie ein Detektivroman. Die Autoren hangeln sich an den historischen Belegen entlang und beantworten dabei die Fragen „Was hat Tolkien wo und wann gemacht?“, „Woran könnte er beteiligt gewesen sein?“. Das macht die Aufsätze trotz (oder wegen) ihrer Wissenschaftlichkeit sehr spannend.
Darüber hinaus behandelt das Buch ein wichtiges Thema: Tolkiens erfundene Sprachen und seine Bemühungen als Sprachenerfinder sind für die Betrachtung seines literarischen Werks wesentlich. Schließlich sollte dieses zu allererst einen mythischen Hintergrund für die Sprachen bieten. Wesentlich ist daher auch die Frage, woher Tolkiens Faszination und Inspiration für erfundene Sprachen kam. Cilli sieht den Einfluss den konkreten Einfluss von Esperanto auf Tolkiens Sprachen als eher gering an: “Ich denke, dass Tolkiens Interesse sich hauptsächlich aus zwei Quellen speiste: Die Tatsache, dass [Esperanto] eine komplett künstliche Sprache war, und dessen große Verbreitung. Er war fasziniert von Zamenhof, der sich, ohne Philologe zu sein, an dieser gewaltigen Aufgabe versuchte.” Während Esperanto als Kommunikationssprache gedacht war, verfolgten Tolkiens Sprachen einen ganz anderen Zweck: nämlich dem persönlichen Geschmack des Autors möglichst gerecht zu werden. “[…] I vermute, dass Tolkien [heute], wäre er noch am Leben, seine Meinung noch einmal ändern würde und er glücklich wäre, dass, zum Beispiel, die Übersetzungen des Hobbits und des Herrn der Ringe in Esperanto sehr erfolgreich sind und eifrig gelesen und nachgefragt werden.”, so Cilli.
Das Buch ist daher für jeden zu empfehlen, der sich intensiv mit Tolkien beschäftigt. Ein gewisser Grad an Vorwissen wird allerdings erwartet. Zwar wird Tolkiens Einstieg in das Sprachenerfinden erläutert, als Einsteigerlektüre in die Tolkienistik eignet sich das Buch aber trotzdem nicht. Zumindest A Secret Vice sollte man vorher gelesen haben.
Auf eine deutsche Übersetzung werden wir wohl nicht hoffen können: Englisch- oder Italienischkenntnisse sind also ebenfalls Voraussetzung.
Was ist eigentlich Esperanto?
Esperanto ist eine Kunst- oder Plansprache, also eine Sprache, die sich nicht natürlich entwickelt hat, sondern von einem einzelnen Menschen erdacht wurde. Dieser Mensch war der Pole Ludwik Lejzer Zamenhof, der 1887 seinen ersten Entwurf des Esperanto veröffentlichte.
Sein Hauptziel war es, eine gemeinsame Sprache für die Menschheit zu schaffen und damit die internationale Verständigung zu verbessern. Während Esperanto in den ersten Jahrzehnten nach seiner Publikation begeistert aufgenommen wurde, verebbte die Euphorie seit den 1930er Jahren, wohl bedingt durch die beiden Weltkriege.
Heute ist Esperanto die Sprache einer immer noch sehr lebendigen Gemeinschaft, die regelmäßig Kongresse abhält und Publikationen auf Esperanto herausgibt. Und… Esperanto ist die einzige Kunstsprache der Welt, die von Menschen als Muttersprache gesprochen wird! Ca. 1.000 von ihnen gibt es heute, ca. 2 Millionen weitere Menschen können Esperanto sprechen oder haben es zumindest einmal versucht.
Linguistisch betrachtet ist Esperanto eine Mischung aus germanischen (also z.B. Deutsch oder Englisch), romanischen (z.B. Spanisch oder Französisch) und slawischen Sprachen (z.B. Russisch oder Polnisch) und kann daher von Sprechern dieser Sprachen recht schnell erlernt werden. Darüber hinaus ist die Grammatik sehr einfach.
Na, wisst Ihr, was das bedeuten könnte?
“La bona knabo laboras multe.”*
Credits
Titelfoto: Tobias M. Eckrich
Flagge: Public Domain, Autor Gabriel Ehrnst GRUNDIN
Cover, Zamenhofs erstes Buch: gemeinfrei
Hobbit auf Esperanto: http://hobbithunter.nl/my-collection/hobbits-i-have/esperanto/esperanto-2005/
*Der gute Junge arbeitet viel.