Tolkiens Liebe zur Pflanzenwelt ist hinlänglich bekannt. Mit den Ents schrieb er seinen geliebten Bäumen handfeste (wenngleich eher behäbige) Verteidiger zur Seite, und schon mancher Spötter beklagte, nach der Lektüre des Herrn der Ringe jeden Grashalm Rohans beim Namen zu kennen. Eigentlich erstaunlich, dass es nicht längst schon ein ausführliches Nachschlagewerk zur Botanik von Mittelerde gibt. Seit dem vergangenen Herbst schließt Flora of Middle-earth diese Lücke. Der emeritierte Biologie-Professor Walter S. Judd (University of Florida) und sein Sohn, der Grafiker Graham A. Judd, haben mit viel Liebe eine wissenschaftliche Übersicht der Bäume, Blumen und Heilkräuter, die in Tolkiens Werken Erwähnung finden, geschaffen. Bereits von außen ist Flora of Middle-earth ein Schmuckstück: Der Schutzumschlag vermittelt einen ersten Eindruck von Graham A. Judds holzschnittartigen Illustrationen, die auch die Pflanzenbeschreibungen begleiten. Damit stellt sich das Buch gezielt in die Drucktradition klassischer Kräuterbücher. Entsprechend ernsthaft widmet sich Walter S. Judd seinen Erklärungen; die fundierten Pflanzenbeschreibungen könnten genau so in einem herkömmlichen Pflanzenbestimmungsbuch stehen. Schließlich gibt es die meisten mittelirdischen Gewächse auch in der Realität. Aus jeder Zeile spricht aufrichtige Begeisterung für die Botanik ebenso wie für Tolkiens Bücher, die den Leser mitnimmt.
Sommergrüne Laubwälder Númenors und andere Biotope
In der Einleitung skizziert Walter S. Judd knapp, welche wichtige Rolle Pflanzen in Tolkiens Büchern spielen. Selbst wenn sie nicht unmittelbar für das Geschehen relevant sind, tragen sie zur Atmosphäre bei und vermitteln ein realitätsnahes Bild der verschiedenen Orte. Die Pflanzen sind stets passend zur Umgebung gewählt und zeugen von Tolkiens guter Beobachtungsgabe und seinem Verständnis für die Natur – ganz gleich, ob es sich um die Felder und Wälder des Auenlandes handelt, die Rodungen rund um Isengart, die Salzmarsch der Sirion-Mündungen oder die mediterran anmutenden Oliven- und Lorbeerhaine Ithiliens. Selbst Tolkiens Eigenschöpfungen wie Aeglos oder Seregon, Elanor oder die weißen Geisterblumen des Morgultals folgen nachvollziehbaren botanischen Regeln. Einen Überblick über ihre Standorte und die allgemeinen Vegetationszonen Mittelerdes, von der arktischen Tundra rund um Angband im Ersten Zeitalter bis zu den Wüsten von Weit-Harad zur Zeit des Ringkriegs, vermittelt das zweite Kapitel. Hier untersucht Judd auch die Einflussnahme der verschiedenen Bewohner von Mittelerde auf die Pflanzenwelt: Nicht nur die zerstörerischen Tätigkeiten Morgoths, Saurons oder Sarumans verändern die Flora Mittelerdes dauerhaft, auch die landwirtschaftlichen Bemühungen der Hobbits, der Import fremdartiger Gewächse durch die Númenorer oder die ganz auf Schönheit und Dauerhaftigkeit ausgerichtete züchterische Optimierung durch die Elben hinterlassen deutliche Spuren.
Grundkurs Botanik
Auf diese locker und unterhaltsam geschriebenen Einführungen folgen drei kurze, eher trockene Kapitel, in denen Judd die Evolution verschiedener Lebensformen, die wissenschaftlichen Fachbegriffe zur Pflanzenbeschreibung sowie einen Bestimmungsschlüssel für die in Tolkiens Werken nachweisbaren Pflanzen erläutert. Trotz des zweifelsohne wichtigen Inhalts sind diese Kapitel der schwächste Teil des Buchs und kranken ein wenig am eigenen Anspruch, möglichst viel naturwissenschaftliches Fachwissen auf möglichst wenig Raum vermitteln zu wollen. Für ein echtes Verständnis der Pflanzenbiologie bleiben die knappen Erklärungen zwangsläufig zu oberflächlich, für unbedarfte Laien dürfte die Flut an lateinischen Fachausdrücken eher einschüchternd als erhellend wirken. Wer zum späteren Verständnis der Beschreibungen auf diese Fachtermini angewiesen ist und kein hochleistungsfähiges Gedächtnis hat, macht sich am besten Kopien der dankenswerterweise mitgelieferten Grafiken zu Blattwachstum, Blütenformen und -aufbau, um beim Lesen ohne ständiges Zurückblättern darauf zugreifen zu können.
Was wächst am Wegesrand im Auenland?
Rundum gelungen sind wiederum die 144 Einzelbeschreibungen. 95 Pflanzen sowie eine Bakterienart werden detailliert vorgestellt, den Zwei Bäumen von Valinor ist sogar ein eigenes Kapitel gewidmet. Die weiteren Gewächse werden als Teil übergeordneter Gruppen (Pflanzen Ithiliens, Lebensmittelpflanzen, Hobbitnamen und Namen aus Bree) kurz erläutert. Die alphabetisch geordneten Pflanzenbeschreibungen sind übersichtlich unterteilt. Auf Pflanzennamen und -familie folgt ein Zitat aus dem Legendarium und eine längere Untersuchung zur Bedeutung der jeweiligen Pflanze im Zusammenhang mit Tolkiens Werken. Bei den erfundenen Pflanzen verweist Walter S. Judd auf vergleichbare Gewächse, die möglicherweise als Inspiration gedient haben – teils anhand von Tolkiens eigenen Kommentaren oder Zeichnungen, teils nur auf Grundlage der Erwähnung im Text. Manchen Spekulationen muss man dabei nicht zwingend zustimmen. So überrascht etwa die Annahme, dass es sich bei den unbekannten immergrünen Bäumen, die Merry und Pippin im Fangorn-Wald auffallen, um die eigentlich in Australien beheimateten Banksien handeln könnte. Aber die Erklärungen zu den hinter diesen Vermutungen stehenden Gedankengängen sind allemal hilfreich. Die Erläuterungen zur Etymologie der englischen und lateinischen Pflanzennamen hätten den Professor sicher sehr gefreut. Soweit der Name der Pflanze in einer der Sprachen Mittelerdes bekannt ist, findet er ebenfalls Erwähnung. Desweiteren beschreibt Walter S. Judd den typischen Standort der Pflanze sowie ihre Verwendungsmöglichkeiten, bevor er schließlich das äußere Erscheinungsbild knapp zusammenfasst. Die gekonnt auf das Wesentliche reduzierten Pflanzenportraits von Graham A. Judd helfen beim (Wieder-)Erkennen der Pflanze in der Natur.
Nachschlagewerk für Tolkien-Forscher, Botaniker und Kreative
Insgesamt zeigt Flora of Middle-earth überzeugend, dass sich auch aus naturwissenschaftlicher Perspektive ein Blick nach Mittelerde lohnt. Das Buch liefert einen unterhaltsamen und informativen Einblick in die botanischen Aspekte von Tolkiens Zweitschöpfung und ist empfehlenswert für alle, die mehr über die Bedeutung der Pflanzenwelt in Mittelerde, Mitteleuropa und teils auch darüber hinaus erfahren möchten. Wer Tolkien und sein Verständnis der Natur weiter erforschen möchte, findet in Flora of Middle-earth ebenfalls eine Fülle hilfreicher Informationen. Besonders nützlich dürfte es außerdem für diejenigen sein, die sich kreativ mit Mittelerde beschäftigen, etwa als Illustratoren, Rollenspieler oder Fanfiction-Autoren. Quizmaster finden möglicherweise auch die ein oder andere Inspiration – etwa die Antwort auf die Frage, wieviele einheimische Baumarten der Britischen Inseln es nicht in Tolkiens Hauptwerke geschafft haben. Ob und wann es eine deutsche Übersetzung geben wird, ist leider noch nicht bekannt.
Credits
Titelfoto und Hochkantfoto: Christiane Steinwascher
Längsfotos: Annika Röttinger
Cover: Oxford University Press