“Und da schien es ihm […], dass sich der graue Regenvorhang in silbernes Glas verwandelte und zurückgerollt wurde, und er erblickte weiße Strände und dahinter ein fernes grünes Land unter der rasch aufgehenden Sonne.” (J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe, “Die Grauen Anfurten”)
Christopher Tolkien ist am 16. Januar verstorben. Er war der dritte Sohn J.R.R. Tolkiens, dessen literarischer Erbe und Nachlassverwalter. 24 Bücher Tolkiens veröffentlichte er nach dem Tod seines Vaters, darunter Tolkiens Lebenswerk, Das Silmarillion. Ohne Christopher Tolkiens unermüdliche Arbeit wäre Mittelerde ein wesentliches Stück kleiner. Ein Nachruf.
Kindheit & Jugend
Christopher John Reuel Tolkien wurde am 21. November 1924 als dritter Sohn von John Ronal Reuel und Edith Tolkien in Leeds geboren. Seinen ersten Vornamen erhielt er zu Ehren von Christopher Wiseman, einem der engsten Freunde seines Vaters. Er hatte zwei ältere Brüder, John Francis Reuel (1917-2003) und Michael Hilary Reuel (1920-1984), später folgte noch eine Schwester, Priscilla Mary Anne Reuel (*1929). Als Christopher geboren wurde, war J.R.R. Tolkien Dozent für englische Sprache an der Universität Leeds. Christopher war von kleinauf seinem Vater ganz besonders nahe. Laut dem Biographen Humphrey Carpenter notierte Tolkien nach Christophers Geburt in seinem Tagebuch: “Nun w ürde ich nicht hingehen ohne das, was Gott gesandt hat.”
1925 wurde J.R.R. Tolkien Rawlinson and Bosworth Professor für Angelsächsisch in Oxford und die Familie zog an den neuen Arbeitsort des Vaters. In seiner Kindheit hegte Christopher eine große Liebe für Modelleisenbahnen. Er besuchte erst die Dragon School in Oxford und später die Oratory School nahe Reading. Besonders spannend wurde es im Hause Tolkien, wenn der Vater seinen Kindern seine selbst erfundenen Geschichten erzählte. Christopher hing besonders gespannt an seinen Lippen, wenn J.R.R. Tolkien von Hobbits, Elben und bösartigen Gestalten erzählte. So erhielt Christopher schon früh Einblicke in das gewaltige Legendarium, das der Phantasie seines Vaters entsprungen war. Einige Geschichten erdachte J.R.R. Tolkien sogar extra für seine Kinder, zum Beispiel die über den Hobbit Bilbo, der in ein großes Abenteuer hineingeworfen wird.
1938 wurde bei Christopher eine seltsame Herzerkrankung diagnostisiert – er musste monatelang im Bett liegen. In dieser Zeit kümmerte sich J.R.R. Tolkien intensiv um seinen Sohn, sodass ihre Beziehung weiter wuchs. Tolkien schrieb in sein Tagebuch, der Junge sei zu “[…]einem nervösen, reizbaren, widerborstigen, selbstquälerischen und frechen Menschen [herangewachsen]. Und doch ist etwas zutiefst Liebenswertes an ihm, für mich jedenfalls, gerade weil wir uns so ähnlich sind.”
Ein Ring und der Zweite Weltkrieg
Nach dem großen Erfolg des Hobbits wollten J.R.R. Tolkiens Verleger mehr über Hobbits erfahren und baten um eine Fortsetzung. J.R.R. Tolkien begann diese 1937 und es sollte 12 Jahre dauern, bis Der Herr der Ringe vollendet war. Christopher spielte dabei eine wichtige Rolle, indem er seinem Vater immer wieder zur Hand ging und als erster Kritiker mit wertvollem Feedback zur Seite stand. Er tippte einige Kapitel auf der Schreibmaschine ab und, noch viel wichtiger, zeichnete die ersten Karten Mittelerdes. Noch heute werden diese Karten im Herrn der Ringe verwendet.
1943, während des Zweiten Weltkriegs, trat Christopher der Royal Air Force bei und wurde, wie der Zufall es wollte, gerade in Südafrika, dem Geburtsland seines Vaters, stationiert. In den kommenden zwei Jahren reisten zahlreiche Briefe (mehr als 70 sind erhalten) zwischen Christopher und seinem Vater hin und her. Sie belegen, wie stark Christopher an der Entstehung des Herrn der Ringe beteiligt war. Große Teile des Vierten Buches des Herrn der Ringe schickte J.R.R. Tolkien abschnittsweise an seinen Sohn, und der gab seinem Vater wertvolles Feedback zum Verlauf der Geschichte, wies ihn aber auch auf kleine Unstimmigkeiten hin, wie etwa unterschiedliche Mondphasen innerhalb der gleichen Zeitspanne. In den Briefen erzählt Tolkien aber auch viel aus seinem täglichen Leben und von der Arbeit am Herrn der Ringe, sodass wir heute ein nahezu komplettes Bild von Tolkiens Leben in dieser Zeit haben. Die Briefe wurden 1981 von Christopher und Humphrey Carpenter herausgegeben.
Studium & akademische Karriere
Nach Kriegsende schloss Christopher 1949 das bereits vor dem Weltkrieg begonnene Studium der Englischen Sprache am Trinity College, Oxford ab. Dabei begab er sich ganz in die Fußstapfen seinen Vaters, mit dem er nicht nur den Enthusiasmus für Mittelerde teilte, sondern auch eine Liebe zu alten germanischen Sprachen. So wurde er nach seinem Studium Dozent für Alt- und Mittelenglisch sowie Altisländisch an der Universität Oxford und publizierte akademische Schriften über altnordische Sagen und die Werke Geoffrey Chaucers. Wie sein Vater machte er sich damit einen Namen als Philologe und Mediävist. Seine B.Litt. Thesis enthält beispielsweise eine kommentierte Ausgabe und Übersetzung der altnordischen Hervarar Saga.
1963 wurde Christopher ein Fellow am New College in Oxford. Christopher nahm jetzt auch regelmäßig an Treffen der “Inklings”, dem literarischen Freundeskreis um seinen Vater und C.S. Lewis, teil. Die anderen Mitglieder fanden, er könne besser aus dem sich entwickelnden Herr der Ringe Manuskript vorlesen als sein Vater. Christopher war das letzte lebende Mitglied der “Inklings”. 1951 heiratete Christopher Faith Faulconbridge und 1959 wurde der gemeinsame Sohn Simon geboren. Die Ehe wurde 1963 geschieden. Christopher heiratete 1967 seine zweite Ehefrau Baillie Klass, mit der er zwei Kinder hat, Adam, geboren 1969, und Rachel, geboren 1971. Zusammen mit Baillie gab Christopher 1976 die Briefe vom Weihnachtsmann heraus, Briefe, die J.R.R. Tolkien zwischen 1920 und 1943 für seine Kinder geschrieben und illustriert hatte.
Der “Statthalter” von Mittelerde
Am 2. September 1973 starb J.R.R. Tolkien. Er hatte sein Leben lang an Mittelerde und seinen Mythen und Legenden gearbeitet und dabei weit mehr Material produziert, als bis dahin im Hobbit und dem Herrn der Ringe veröffentlicht worden war. Was sollte mit all den Manuskripten, Notizbüchern, Papieren und Zettelchen passieren, die J.R.R. Tolkien unvollendet zurückgelassen hatte? Würde Das Silmarillion, für das Tolkien nach mehrmaligen Versuchen seinen Verlag hatte erwärmen können und das er Fans immer wieder versprochen hatte, jemals veröffentlicht werden? Wer wäre besser dafür geeignet gewesen, sich dem riesigen Nachlass zu widmen, als Tolkiens alter Gehilfe und Mitstreiter: sein Sohn Christopher. Die nächsten 45 Jahre verbrachte Christopher damit, wofür wir ihm heute so dankbar sind: die akribische Verwaltung und minutiöse Berarbeitung von Tolkiens Legendarium. Er wurde zum “Statthalter” von Mittelerde. Wie der Truchsess von Gondor die Aufgaben des Königs bis zu dessen Wiederkehr übernommen hatte, so schulterte Christopher nun die gewaltige Aufgabe, Mittelerde zu “vervollständigen”. Dafür gab er 1975 sogar seinen Fellowship in Oxford auf.
1975 wurden dann auch die ersten Werke aus J.R.R. Tolkiens Nachlass veröffentlicht: Der Guide to the Names in The Lord of the Rings enthält J.R.R. Tolkiens Anmerkungen für die Übersetzer des Herrn der Ringe. Im gleichen Jahr zog er mit seiner Frau Baillie nach Südfrankreich, auf ein abgeschiedenes, von Pinien und Olivenbäumen umgebenes Anwesen bei Drauguignan. Der Wirbel um seinen Vater und das damit verbundene Interesse der Fans war ihm wahrscheinlich noch sehr präsent, als er sich dazu entschloss, aus Oxford fortzugehen. Mit ihm zogen 70 Kartons voll unveröffentlichter Schriften seines Vaters um. 1977 erschien das vermutlich wichtigste von Christopher bearbeitete Werk: Das Silmarillion. In dieser “Vorgeschichte Mittelerdes” fasste Christopher jene Versionen von Geschichten zusammen, von denen er annahm, dass sein Vater sie für endgültig betrachtet hatte.
1980 wurde Nachrichten aus Mittelerde mit weiteren Versionen und Geschichten veröffentlicht. Schließlich folgte in den Jahren 1983 bis 1996 die History of Middle-earth, eine 12-bändige Reihe, die die Entstehung und Entwicklung von Mittelerde und Tolkiens Werken abbildet. Christopher präsentiert und kommentiert in ihr die Geschichten seines Vaters. Mit Die Kinder Húrins (2007), Beren und Lúthien (2017) und Der Fall von Gondolin (2018) schloss er die letzten eigenständigen Erzählungen aus dem Silmarillion ab. Im Vorwort zu Der Fall von Gondolin kündigte er an, dies würde wohl sein letztes sein. Dies “drohte” er zwar schon im vorangegangenen Beren und Lúthien an, doch dieses Mal sollte er Recht behalten. Christopher bearbeitete aber auch wissenschaftliche Schriften seines Vaters. Bei Sir Gawain and the Green Knight, Pearl und Sir Orfeo (1975) sowie Beowulf (2014) handelt es sich um Übersetzungen Tolkiens aus dem Mittel- bzw. Altenglischen. The Legend of Sigurd und Gudrun (2009) und The Fall of Arthur (2013) stellen Nachdichtungen Tolkiens basierend auf alten Stoffen dar. J.R.R. Tolkiens Aufsätze Beowulf: The Moster and the Critics und On Fairy-Stories sind nach wie vor wegweisend für sein Fach und wurden 1983 veröffentlicht.
Christopher war aber nicht nur als Bearbeiter und Herausgeber tätig, sondern kümmerte sich als Vorsitzender des Tolkien Estate auch um finanzielle und rechtliche Belange des Nachlasses seines Vaters. Von diesem Amt trat er 2017 zurück. Die Vermutung liegt nahe, dass er mit der Regelung des Vertrags mit Warner Bros., Metro-Goldwyn-Mayer, New Line Cinema, Amazon Prime und dem Tolkien Estate dafür gesorgt hat, dass die Familie entscheidenden Einfluss auf die künstlerische Ausrichtung der Amazon-Serie hat – ein weiteres, wertvolles Erbe seiner Tätigkeit als literarischer Nachlassverwalter Tolkiens.
Die Bedeutung seines Schaffens
Obwohl Christophers immense Leistung und sein gewaltiger Verdienst am Werk seines Vaters unter Tolkien-Fans unstrittig ist, gab es doch auch immer wieder Kritik an Christophers Arbeit. Einige bemängelten, es enthalte zu viel Christopher und zu wenig J.R.R. Tolkien. In seiner minutiösen Bearbeitung der History of Middle-earth bewies Christopher jedoch für viele seine Glaubwürdigkeit.
Die Leistung Christopher Tolkiens lässt sich kaum in Worte fassen. Nicht nur, dass er über vierzig Jahre lang kontinuierlich den unübersichtlichen literarischen Nachlass bearbeitet und in insgesamt 24 Publikationen herausgebracht hatte, es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass ein Großteil des Erfolges von Mittelerde seinem Engagement zu verdanken ist. Ohne ihn hätten wir nicht das Silmarillion, die History of Middle-earth und die vielen anderen phantastischen Erzählungen, die sein Vater unvollendet zurückgelassen hat. Man bedenke: In einer Zeit ohne Internet wurde jeder einzelne Titel, den Christopher herausgebracht hat, mit Spannung erwartet. Praktisch alle waren Bestseller.
Durch die regelmäßige Herausgabe hat er dazu beigetragen, dass das Interesse am kreativen Genie seines Vaters nie nachgelassen hat, sondern vielmehr immer weiter angewachsen ist. Tolkienfans und -forscher haben heute Zugriff auf die kreative Entwicklung eines der erfolgreichsten Schriftsteller aller Zeiten, auf Leben und Werk, und das in einer Form, die ihresgleichen sucht. All das wäre ohne Christopher Tolkien, der wie kein anderer dazu geeignet war, diese Aufgabe zu erfüllen, nicht möglich gewesen.
Die Sonderfolge des TolkCast zu Christopher Tolkien
Auch wenn es nicht die sauberste Aufnahme in der Geschichte des TolkCasts ist, so ist sie die mit Abstand aufrichtigste und authentischste Episode. Vier Personen in Form von Annika, Dennis, Marcel und Tobias widmen diese Sondersendung Christopher Tolkien. In dieser Folge finden viele weitere Anekdoten zu Christopher Platz, die nicht im schriftlichen Nachruf enthalten sind. Am Ende der fast anderthalbstündigen Sendung kommt Christopher selbst noch einmal zu Wort um ihm einen würdigen Abschied zu geben. Es lohnt sich also, bis zum Schluss zuzuhören. Wer nicht so lange warten will, kann auch die Kapitelmarken nutzen. Diesesmal sind es knapp 30 Stück geworden.
Wenn Ihr Eure Gedanken und Erinnerungen an Christopher Tolkien mit anderen TolkCast Hörern teilen möchtet, könnt Ihr unter der Festnetznummer: (089) 24887377 eine Nachricht auf Band sprechen. Wir werden diese dann in der nächsten Sendung einspielen.
Gedanken zu Christopher Tolkien
Er war seiner Aufgabe als Herausgeber und Literaturhistoriker in einzigartiger Weise gewachsen. Er hatte auch ein nahezu übernatürliches Gedächtnis. In meiner sehr genauen Untersuchung von The History of Middle-earth (hauptsächlich auf der Suche nach Beweisen, um seine bereits detaillierten Erkenntnisse über die Chronologie der Entstehung zu ergänzen) habe ich erstaunlich wenig Fälle von Versehen oder Vernachlässigung gefunden. Seine zurückhaltenden und prägnanten Kommentare verschleiern, welch ein enormer Aufwand an Stunden es gewesen sein muss, diese Fülle an Details zu verorten und den Überblick zu schaffen, der es ihm erlaubte, uns maßgeblich zu leiten. All dies geschah ohne die Hilfe von Computern, gegen die er temperamentvoll allergisch war.
Es ist ein unermesslicher Segen für das Vermächtnis seines Vaters und für uns, dass er bereit war, seine Energien für die von ihm übernommene Aufgabe einzusetzen. Dies geschah in der Regel im Angesicht gleichgültiger oder offen feindseliger Rezensenten, die mit dem Gegenstand ihrer Kritik völlig überfordert waren. Er trug es nicht nur mit Geschick und Einsicht, sondern auch mit Demut und zärtlicher, oft rührender Hingabe. Ich bezweifle, dass irgendein literarischer Nachlassverwalter je mehr getan hat, um das Verständnis für das Werk eines Autors zu fördern. Christopher hat uns ein beispielloses Portrait der Kreativität in Arbeit hinterlassen. Möge sein Werk noch lange blühen und Früchte tragen.
Wenn J.R.R. Tolkien der visionäre Architekt des erstaunlichen literarischen Bauwerks war, dessen Fundamente Der Hobbit und die drei Bände des Herrn der Ringe sind, dann war Christopher Tolkien sowohl ein unermüdlicher und kenntnisreicher Reiseleiter, als auch ein weiser und stets wachsamer Türhüter des Königreichs.
Danke für Mittelerde, Christopher Tolkien, und Namárië!
An diesem Nachruf haben mitgearbeitet: Annika Röttinger, Marcel Aubron-Bülles, Maria Zielenbach, Sophie Bauer und Tobias M. Eckrich
Quellen
Carpenter, Humphrey. 1979. J.R.R. Tolkien: Eine Biographie. Stuttgart: Klett-Cotta.
http://cw.routledge.com/ref/tolkien/ctolkien.html
Credits
Titelfoto: Credit François Deladerrière – © The Tolkien Estate Limited 2016
Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels haben wie angegeben, Christopher Tolkien sei am 15. Januar gestorben. Dies war das zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung allgemein angenommene Datum.