80 Jahre Tolkien Rezeption – 15 Jahre Tolkien Seminar

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Vom 5. bis zum 7. Oktober 2018 fand in Aachen das alljährliche Tolkien Seminar der DTG statt, in diesem Jahr zum 15. Mal. Tolkien-Forscher aus aller Welt stellen hier interessierten Fans neue Beiträge aus der Tolkien-Forschung vor.

Dieses Jahr war das Thema die Rezeption von Tolkien, d.h. wie Tolkien in verschiedenen Ländern oder Bevölkerungsgruppen wahrgenommen wird. Frankreich, Italien, Polen, Russland, die Niederlande und Belgien, Japan, die Geschichte der Kritik an Tolkiens Werk aus Sicht der Literaturwissenschaft sowie die Aktivitäten von Tolkiens Fans im Internet waren Thema einzelner Vorträge. In der abschließenden Diskussion betonten Besucher wie Forscher die Wichtigkeit der Veranstaltung, die durch ihre Internationalität, Konstanz und Zuverlässigkeit ein wichtiger Grundpfeiler der europäischen Tolkien-Forschung geworden ist.

Zusätzlich zu den Vorträgen gab es in zwei Abendveranstaltungen sowie einer Stadtführung durch Aachen viele Gelegenheiten zum persönlichen Austausch zwischen Publikum und Vortragenden.

Ehrungen

Einer liebgewonnenen Tradition folgend wurde durch die Walking Tree Publishers wieder die „Ehrendoktorwürde der University of the Blue Mountains“ vergeben – diesmal an Claudio Testi, Italien.

Das Teilnahmestipendium der Deutschen Tolkien Gesellschaft für Tolkien-Nachwuchsforscher, aufgelegt anlässlich des 20-jährigen Vereinsjubiläums, erhielten in diesem Jahr Mina Lukic aus Serbien und Jennifer Neidhardt aus Deutschland.

Die Vorträge

The Road Goes Ever On

In seinem Vortrag „The Road Goes Ever On” beschrieb Allan Turner die Geschichte und Entwicklung der literarischen Rezeption von Tolkien im englischsprachigen Raum am Beispiel von Tom Shippey. Ausgehend von einer initial vor allem negativen Bewertung Tolkiens in der Literaturkritik hat sich über die Jahre eine fruchtbare kritische Auseinandersetzung entwickelt, die zu einem vertieften Verständnis von Tolkiens Werk beiträgt. Hierzu hat Tom Shippey mit seinen Veröffentlichungen maßgeblich beigetragen.

English Studies and Tolkien: A Reexamination of the 1969 Columbia Pamphlet

Eine ähnliche Entwicklung zeigte Jon Naumann in seinem Vortrag „English Studies and Tolkien: A Reexamination of the 1969 Columbia Pamphlet“ für den US-amerikanischen Raum auf. Das im Titel erwähnte Dokument stellt eine frühe Auseinandersetzung mit Tolkiens Werk im Rahmen einer Buchbesprechung dar, die in für diese Zeit typischer Weise mit unsachlichen und z.T. verfälschenden Aussagen versucht, den möglichen Leser von der Beschäftigung mit Tolkien abzuhalten. Erst im Verlauf der Zeit konnte sich die Literaturwissenschaft im US-amerikanischen Raum auf eine sachliche Auseinandersetzung mit Tolkien einlassen.

I come from Mordor: Professor Przemysław Mroczkowski as Tolkien’s Friend and Tolkien Scholar

Łukasz Neubauer beschrieb in seinem Vortrag „I come from Mordor: Professor Przemysław Mroczkowski as Tolkien’s Friend and Tolkien Scholar“ den Einfluss von Professor Mroczkowski auf die polnische Fantasy und ihre kritische Rezeption. Durch seine persönliche Bekanntschaft mit Tolkien und positive Besprechungen von dessen Werken hatte Mroczkowski einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung englischsprachiger Fantasyliteratur in Polen.

Faërie and Applicability: The Aesthetic Experience of Tolkien’s Literary Legacy

Annie Birks stellte in ihrem Vortrag „Faërie and Applicability: The Aesthetic Experience of Tolkien’s Literary Legacy” eine Übersicht von Essays und Zitaten zu Tolkiens Einfluss auf Studierende aus ihrer Lehrtätigkeit in Frankreich vor. Aus über 220 Essays wurde die Bedeutung von Tolkiens Werk für die Studierenden in z.T. sehr persönlichen Aussagen sichtbar. Wiederkehrende Themen waren hier die Identifikation der Leser und Leserinnen mit Helden in den Werken, die Anregung, sich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen, der Wert der Peter-Jackson-Filme als Brücke zum Werk Tolkiens sowie der Wert der Werke als Inspiration und ästhetisches Vorbild für die Leser und Leserinnen.

Tolkien in Japan

Tolkiens Rezeption in Japan war Gegenstand des Vortrags „Tolkien in Japan“ von Christian und Sophie Lemburg. Tolkien ist in Japan wohlbekannt, fast alle seine Werke sind ins Japanische übersetzt. Tolkiens Popularität ist in Japan durch die Filme Peter Jacksons als globales Phänomen geprägt. Im Vergleich zu Deutschland sind Tolkiens Werke in Japan jedoch weniger populär, sein Werk gilt als berühmte englischsprachige Kinder- und Jugendliteratur. Auf die japanische Fantasy hat Tolkien nur wenig Einfluss gehabt, da in Japan historisch andere Genres dominieren: Geister- und Monster-Geschichten sowie Mystery und Horror. Die Forschung zu Tolkien in Japan ist relativ aktiv, ebenso gibt es eine im Vergleich zu Deutschland deutlich kleinere, aber relativ aktive Fan-Community.

Critical and scholarly reception of J.R.R. Tolkien’s works in Russia at the turn of the XX-XXI centuries

Die kritische und akademische Rezeption Tolkiens in Russland wurde von Elina Shustova in ihrem Vortrag „Critical and scholarly reception of J.R.R. Tolkien’s works in Russia at the turn of the XX-XXI centuries” dargestellt. Während in den 1960er und 1970er Jahren noch Untergrund-Übersetzungen die Rezeption von Tolkiens Werk in Russland bestimmten, gab es ab den 1980er Jahren zunehmend auch offizielle, wenn auch zensierte Übersetzungen des Hobbit und des Herrn der Ringe, die dann auch in der offiziellen Literaturkritik wahrgenommen wurden. Die ersten Reaktionen waren vor dem Hintergrund einer modernistischen Literaturideologie in der offiziellen Kritik weitgehend negativ. Dem stand eine enthusiastische inoffizielle Fangemeinde gegenüber. In den 1990er Jahren wurde Tolkien in der Literaturkritik noch weitgehend als „Eskapismusliteratur“ angesehen. Erst mit den Kinofilmen kam ab 2003 die offizielle Anerkennung sowie die Möglichkeit, sich mit Tolkiens Werk auch in der akademischen Forschung zu beschäftigen. Seit ungefähr 2010 ist Tolkiens Werk als eigenständige Fantasy-Welt auch offiziell in Kritik und Forschung in Russland anerkannt.

35 Years of Italian Tolkien Criticism

Claudio Testi stellte in seinem Vortrag „35 Years of Italian Tolkien Criticism“ die Rezeption Tolkiens in der italienischen Literaturkritik dar. Anhand einer detaillierten statistischen Analyse von 119 italienischsprachigen Büchern zu Tolkien zeigte er Muster und Entwicklungen anhand von Zitaten italienischer und englischsprachiger Literatur auf. Interessant ist hier, dass wichtige Werke der englischsprachigen Sekundärliteratur zu Tolkien (Shippey, Flieger, Carpenter, Garth) in Italien erst nach der Übersetzung ins Italienische erfolgreich rezipiert wurden. In der italienischen Kritik finden sich im Wesentlichen drei Interpretationsansätze zum Werk Tolkiens: Symbolik, Allegorie mit christlichen Elementen und Literaturwissenschaft. Zeitlich sind in der italienischen Rezeption drei Phasen zu unterscheiden: eine Anfangsphase mit relativ wenigen Werken, aber gutem Impact vor dem Jahr 2000, eine durch viele Publikationen mit geringem Impact geprägte Phase von 2000 bis 2010 und seit 2010 eine produktive Phase mit relativ vielen Publikationen mit gutem Impact.

Reception in the Low Lands

Die Rezeption Tolkiens in den Niederlanden und in Belgien war Thema des Vortrags von Renée Vink „Reception in the Low Lands“. In den Niederlanden war – im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern – die initiale Rezeption von Tolkiens Werk in der Kritik sehr positiv. Bereits in den 1950er und 1960er Jahren gab es Übersetzungen des Hobbit und des Herrn der Ringe. Interessanterweise war in den Niederlanden der Herr der Ringe anfänglich populärer als der Hobbit. In den 1970er Jahren erschien das Silmarillion auf Niederländisch, gleichzeitig setzte eine Welle negativer Kritik von Tolkiens Werk ein, die in der akademischen Welt z.T. bis heute anhält und auf einer generellen Ablehnung von Fantasy als „ernsthafter“ Literatur beruht. Interessant ist hier, dass in der Phase der positiven Rezeption das Label „Fantasy“ in den Niederlanden noch nicht etabliert war und Tolkien so anscheinend anfangs noch nicht in das „niedere“ Genre eingeordnet werden konnte.

J.R.R. Tolkien and the development of Polish mythopoeic fantasy – writers, publishing houses and literary criticism

Magdalena Maczyńska stellte in ihrem Vortrag „J.R.R. Tolkien and the development of Polish mythopoeic fantasy – writers, publishing houses and literary criticism” Tolkiens Einfluss auf die polnische Fantasy-Szene dar. In den 1970er und 1980er Jahren war die Phantastische Literatur in Polen noch wesentlich durch Science-Fiction dominiert, nur wenige Werke der Fantasy lagen überhaupt übersetzt vor (Tolkien, LeGuin, Lewis). Zudem mochte Stanislaw Lem, der damals wichtigste Science-Fiction-Autor, Tolkien nicht. Daher war Tolkien bis in die 1990er Jahre hinein in der offiziellen Literaturkritik in Polen kein wichtiges Phänomen. Nur inoffiziell begeisterten sich Fans für Tolkiens Werk. Dies änderte sich erst Mitte der 1990er Jahre, als neue Definitionen des Fantasy-Genres Tolkien einer neuen literaturkritischen Sichtweise zugänglich machten. Seitdem ist Tolkien auch in Polen Gegenstand der akademischen Forschung. Einige polnische Fantasy-Autoren sind dennoch von Tolkien beeinflusst, als wichtigster wäre hier Sapkowski (The Witcher) zu nennen, dessen Werk auch in deutscher Übersetzung (Geralt von Riva, Hexer-Saga) vorliegt.

Die Stipendiatinnen

Die Art der Erinnerung an Tolkien und sein Werk stand im Mittelpunkt des Vortrags „Digital Poachers in Arda: Imagining, Interpreting and Remembering J.R.R. Tolkien’s Secondary World in Participatory Culture” von Mina Lukic. Anhand der Unterscheidung von Vorstellung (Imagining), Umsetzung (Interpretation) und Erinnerung (Remembering) stellte Lukic anhand der Ergebnisse ihrer über 2.000 Teilnehmer umfassenden Onlineumfrage vor, wie Tolkiens Fans sein Werk individuell am Leben erhalten. Dabei ist die Vorstellung der meisten Fans maßgeblich durch die Bücher, die Filme und die Kunst einiger weniger „offizieller“ Illustratoren (Lee, Howe, Nasmith) geprägt.

Fast alle Fans haben Peter Jacksons Filme gesehen, bei den Büchern kennen über 90 Prozent den Hobbit sowie den Herrn der Ringe und über 75 Prozent kennen das Silmarillion. In der Umsetzung beschäftigen sich die meisten Fans mit den Büchern und den Filmen (über 85%) sowie mit Spielen und Fan-Art (etwa 45%). Viele Fans haben Probleme mit den Filmen, da sie Abweichungen von Tolkiens Büchern gegenüber ablehnend eingestellt sind. Zur Erinnerung ist zu betonen, dass Artefakte allein keine Erinnerung darstellen. Alle Werke müssen immer wieder individuell durch Beschäftigung mit dem Werk re-aktualisiert werden. Hierzu schließen sich die Fans zu Gruppen und Institutionen zusammen (wie der DTG!). In diesen erforschen sie zusammen – physisch wie virtuell im Internet – das Werk und erhalten es so in der Erinnerung. Eine besondere Rolle spielt hier in der modernen Zeit das Internet, und hier insbesondere das Phänomen der „Memes“, d.h., abgeleiteter, meist witziger Werke, die durch ihren Inhalt die Erinnerung an das Original fördern.

Jennifer Neidhardt stellte in ihrem Vortrag „The Hands of the King are the Hands of a Healer – Masculinity and the Deconstruction of Traditional Heroism in the Work of J.R.R. Tolkien” eine moderne Perspektive auf Tolkien vor dem Hintergrund der aktuellen Feminismus- und Gender-Debatte vor. Tolkiens Werk ist bei weiblichen Fans sehr beliebt, obwohl in den eigentlichen Texten nur relativ wenige biologisch weibliche Figuren auftauchen. Neidhardt führt dies darauf zurück, dass die eigentlichen Helden in Tolkiens Hauptwerk (Bilbo, Frodo, Sam, Aragorn, Faramir, Beleg) im Gegensatz zu eher stereotyp maskulinen Figuren (Thorin, Boromir, Turin) ein nicht-stereotypisches Bild des Helden zeigen, mit dem sich auch weibliche Leser identifizieren können. Damit trägt Tolkien dazu bei, auch gesellschaftlich von einer stereotypen Sicht der Geschlechterrollen abzusehen und dem Leser so eine individuelle Identifikation mit den literarischen Figuren zu ermöglichen.

Hither Shore

Alle Vorträge wurden auf Englisch gehalten. Sie werden planmäßig in Band 15 des DTG-Jahrbuchs Hither Shore nachzulesen sein, das im Laufe des Jahres 2019 erscheinen und im Buchhandel erhältlich sein wird.

Credits

Autor: Christian Lemburg
Titelfoto: Simon (AdobeStock: 125840385)
Sonstige Fotos: Wilfried Schönfelder

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