Hither Shore
Interdisciplinary Journal
on Modern Fantasy Literature
Jahrbuch der
Deutschen Tolkien Gesellschaft e.V. (DTG)
Tolkien und das Mittelalter: So naheliegend diese Verbindung zu sein scheint und so häufig sie in der Tolkienforschung der letzten Jahre aufgegriffen wurde, so wenig ist bislang gefragt worden, auf welches Mittelalter eigentlich Bezug genommen wird. Denn die Epochenkonstruktion ›Mittelalter‹ umfasst nicht nur tausend Jahre, sondern auch eine Vielfalt der Kulturen und ebenso zahlreiche moderne Bilder vom Mittelalter. Welche Imaginationen des Mittelalters sind es also, die Tolkien in einen Dialog mit der Moderne bringt und in seinen Entwurf der Welt von Mittelerde integriert?
Mit dieser Frage beschäftigte sich das 8. Tolkien-Seminar im April 2011, veranstaltet von der DTG in Zusammenarbeit mit der Universität Potsdam. Die Bandbreite der Vorträge reichte von den Grundlagen für Tolkiens Auseinandersetzung mit der vormodernen Epoche über literatur- und ideengeschichtliche Zusammenhänge bis hin zur Analyse der mittelalterlichen Bezüge einzelner Phänomene und Motive. Solche Bezüge lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen ausmachen: so etwa die Bedeutung vormoderner Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse, Verhaltens- oder Denkweisen, aber auch mittelalterlicher Imaginationswelten für die Mythologie von Mittelerde. Diskutiert wurde ebenso, wie Tolkien solche Elemente in seine Texte integriert und transformiert und welche poetischen Strategien er bei der Konzeption einer historisch fremden Kultur entwickelt.
Über die Analyse mittelalterlicher Einflüsse hinaus stellte sich die Frage, wie die vielfältigen Mittelalterbilder und -aspekte in Tolkiens Werk zu deuten sind. Sind sie, wie oft unterstellt, Ausdruck eines nostalgischen Anti-Modernismus?
Oder dient die Fremdartigkeit mittelalterlicher Strukturen dazu, Fremdheitserfahrungen bei der Lektüre auszulösen? Tolkiens Weltentwurf grenzt sich an manchen Punkten entschieden von den Phänomenen der Moderne ab, wenn er beispielsweise der neuzeitlich-aufklärerischen ›Entzauberung‹ der Wirklichkeit eine magische Weltwahrnehmung entgegensetzt. Doch vollzieht sich eine solche Wende ins Mittelalterliche eben auch im Bewusstsein moderner Weltanschauungen, die Tolkien nicht etwa negiert, sondern als Stimmen und Denkmöglichkeiten in seinen Epochendialog aufnimmt.
Wie die Tagungsbeiträge und Diskussionen gezeigt haben, hat sich Tolkien von einer großen Vielfalt mittelalterlicher Quellen, Texte und Lebenswelten inspirieren lassen, die zusammen genommen kein geschlossenes, kohärentes Bild vom Mittelalter ergeben. Vielmehr gehen sie in einen groß angelegten literarischen (Re-)Konstruktionsprozess ein, der historische Fremdheit mit modernen Perspektiven verbindet.
Neben den zahlreichen Seminarbeiträgen und den ausführlichen Rezensionen aktueller Forschungsliteratur enthält dieser Band zwei weitere Artikel: Julian Eilmann ergänzt einige Thesen aus seinem Aufsatz zur Romantik; Guglielmo Spirito und Emanuele Rimoli widmen sich den einfachen Freuden in Tolkiens Werk (Essen und Trinken).
Abschließend danken wir für den Erfolg des Seminars und die Ermöglichung dieser achten Ausgabe des DTG-Jahrbuchs der Universität Potsdam, dem Verlag Walking Tree Publishers und der Association Modernités mediévales für die freundliche Unterstützung und selbstverständlich allen Beitragenden, den Mitherausgebern und -herausgeberinnen im Board of Editors und schließlich der Verlegerin Susanne A. Rayermann mit ihrer Graphikerin Kathrin Bondzio.
Patrick Brückner, Thomas Fornet-Ponse, Judith Klinger