Rezension: Atlas der fiktiven Orte

Zu einer Entdeckungsreise zu den Orten unserer Fantasie lädt der Atlas der fiktiven Orte von Komparatist und Literaturwissenschaftler Werner Nell, mit Illustrationen von Grafiker und Literaturwissenschaftler Steffen Hendel. Erschienen ist das Buch 2012 in Meyers Lexikonverlag, Mannheim.

Der erste Eindruck ist sehr positiv. Auf dem Umschlag erkennt man gleich Mittelerde, im Inhaltsverzeichnis findet man neben dem Eintrag zu Mittelerde auch noch das Auenland und Gondor. Es drängt sich die Annahme auf, dass der Autor möglicherweise ein Fan von Tolkiens Werken ist. Die wird leider nach der genaueren Lektüre widerlegt, doch dazu später mehr. Beim ersten Durchblättern schaue ich mir die Illustrationen von Steffen Hendel an. Die sind einfallsreich und wirken geheimnisvoll, stellen aber immer wieder einen Bezug zwischen Fantasie und Realität her, zum Beispiel durch Montagen und Kopien alter Meister. Bei den Einträgen zu Tolkien sind die Karten auch nicht einfach nur direkt vom Buch abgepaust, sondern künstlerisch frei gestaltet.

Die Einleitung ist eine nette Einladung in fiktive Welten einzutauchen. Nicht nur Entdecker und Geografen, auch Philosophen und Schriftsteller nehmen demnach einen wichtigen Platz ein, wenn es darum geht, „die Stellung des Menschen in der Welt zu beschreiben.“ (S. 7). Mir persönlich fehlt ein kleiner Hinweis auf literaturwissenschaftliche Beschäftigung zum Thema Sekundärwelten und deren Kartenwerk, die ja gerade in der Fantasy weit verbreitet ist. Stattdessen verweist Nell lieber auf die „Weltenbastler“ von Ego-Shootern … Im Atlas ist allerdings kein fiktiver Ort aus einem PC-Spiel beschrieben.

Die Einträge bieten eine bunte Vielfalt von Sekundärwelten, angefangen bei mythischen Orten wie Niflheim oder dem Olymp, über Orte aus Literaturklassikern wie Nimmerland oder Lilliput, bis hin zu Entenhausen oder Springfield. Vorne angefangen, bei Karl Mays Ardistan und Dschinnistan, schaue ich mir den Aufbau der Einträge genauer an. Über dem eigentlichen Artikel findet man eine Kurzübersicht zur Lage, Größe, Bevölkerung, wichtigsten Stadt, weitere Orte und Sehenswürdigkeiten. An den Seitenrändern findet man jeweils Werkübersichten (inklusive Filme und weiterer Medien), die sich dem entsprechenden Ort bedient haben, Merkwürdiges und Anekdoten zum Thema oder Hinweise auf weiterführende Literatur oder literarische Vereine, so z.B. die Karl-May-Gesellschaft. Später finde ich zu meiner Freude auch die Deutsche Tolkien Gesellschaft. Die Artikel selbst beschreiben natürlich ein wenig die geographische Lage des jeweiligen Ortes, und dessen Einordnung in die jeweilige Erzählung, geben dann aber hauptsächlich eine historische, biografische oder literarische Einordnung des Werkes. Bei Einträgen wie Atlantis oder Avalon gibt es natürlich neben der Erstquelle viele weitere Werke zu benennen.

Zu Mittelerde gibt es, wie bereits erwähnt, gleich drei Einträge. Da der Atlas alphabetisch geordnet ist, landet man als erstes im Auenland. Dabei fällt auf, dass man fast direkt in medias res, also gleich mitten im Auenland landet, das beschrieben wird als „fruchtbare Landschaft mit lebenslustigen Bewohnern.“ (S. 18). Es folgt eine detailgenaue Beschreibung des Landes und der Bewohner und die wichtigsten historischen Ereignisse, von der Besiedlung bis zum Ringkrieg, werden erläutert. Allerdings gibt es überhaupt keine Hintergrundinformationen zur Entstehung des Herrn der Ringe oder des Hobbits (der wird nicht mal erwähnt!), Informationen zum Autor oder andere Informationen auf extratextueller Ebene, die bei den anderen Einträgen den Hauptteil ausmachen. Aber wir sind ja auch gleich in der Unterkategorie Auenland gelandet, vielleicht kommt das ja alles noch unter dem Eintrag „Mittelerde“. Ein unbedarfter Leser dürfte an dieser Stelle wohl etwas verwirrt sein. Warum verliert sich dieser Eintrag gleich mitten in der fiktiven Welt? (Ein Umstand, den wohl jeder begeisterte Leser des Herrn der Ringe sehr wohl verstehen kann.) Wo sind die profunden Anmerkungen drumherum gelandet?

Gleich hinter Entenhausen liegt Gondor. Auch hier verliert sich der Autors zunächst in Details und geografischen und historischen Beschreibungen, die sicher dafür sprechen, dass Tolkien eben etwas ganz besonderes, nämlich eine ausgearbeitete Zweitschöpfung – ein Wort das man in den Einträgen leider vergeblich sucht – geschaffen hat. Für keine andere der vorgestellten Welten gibt es so viele vorgegebene Details. Gegen Ende des Eintrags schafft Nell dann allerdings doch noch den Sprung auf die extratextuelle Ebene und vergleicht Tolkiens Zweitschöpfung mit dem bereits erwähnten „Weltenbasteln“ in Computerspielen. Ein Blick in Tolkiens „Über Märchen“ wäre zur Einordnung dieser Zweitschöpfung sicherlich sinnvoller gewesen.

Leider wird in diesem Teil auch der Eindruck zerstört, der Autor hätte wegen einer besonderen Vorliebe für Tolkiens Werke gleich drei Einträge zu Mittelerde eingefügt. Hier rächt sich die Detailverliebtheit, denn viele der Details sind nicht ganz richtig – oder richtiggehend falsch. Man kann sicher darüber hinwegsehen, dass unter den Sehenswürdigkeiten die Grenzsteine von Argonath im Süden genannt werden, oder die Bevölkerung nicht nur als Menschen, sondern auch aus Zwergen, Hobbits und Elben bestehen soll. Minas Ithil soll übrigens seinen Namen von Ithilien bekommen haben. Eine weitere interessante Schlussfolgerung lautet: „am Ende aber treten – verjüngt und später geboren – erneut Figuren des Anfangs wieder auf: Auf Aragorn I. folgt, nachdem das Böse besiegt und die Guten (zumindest teilweise) gerettet sind, Aragorn II.“ (S. 47) Wir lesen von einem durchaus üblichen Konzept in Heldenepen, wo auf einen weisen oder erfolgreichen König Generationen später ein ebensolches Vorbild mit gleichem Namen und höherer Regenten-Nummer auftaucht. Allerdings wissen wir von Aragorn I. aus Tolkiens Legendarium nur, dass er in den Zeiten des Wachsamen Friedens lebte und 2327 D.Z. von Wölfen getötet wurde. Aragorns II. große Vorfahren tragen andere Namen.

Während dies alles für den bewanderten Leser ärgerliche, aber im Rahmen einer solchen Arbeit verzeihbare Fehler oder Ungenauigkeiten sind, kann man über eine Sache kaum wohlwollend hinwegsehen. Der rechtmäßige König kehrt laut Nell nämlich zurück, „am Ende der von Tolkien erzählten Geschichte um den Besitz der drei Ringe.“ (S. 46) Hier kann ich nicht mal unterstellen, dass der Autor ‚nur‘ die Filme von Peter Jackson gesehen hat, denn aus denen geht wahrscheinlich noch klarer als aus den Büchern hervor, dass sich alles um den Einen Ring Saurons dreht. Für mich entsteht hier der Eindruck, dass der Autor zwar relativ genau in den Anhängen geforscht, allerdings nicht die Geschichte selbst, oder zumindest eine vernünftige Zusammenfassung, gelesen hat.

Bleibt noch „Mittelerde – Wo der Herr der Ringe regiert“ – wieder so eine kleine Ungenauigkeit, da sich die Einträge auf die Zeit des Ringkriegs fokussieren. Weiter liest man, dass Arnor nördlich von Eriador liegt – einen Fehler, den man aus der von Hendel wunderschön illustrierten, nicht aber aus der dem Herrn der Ringe beiliegenden Karte ziehen kann. Woher das „Königreich Eriador“ stammt kann ich dann aber nicht mehr nachvollziehen. Nell offenbart abermals seine Unkenntnis von essentiellen Teilen der Geschichte: „Auch der Schicksalsberg, in dessen Feuern Sauron jenen dritten Ring schmieden lässt, der ihm die absolute Macht über ganz Mittelerde bringen soll …“ (S. 74). Die Lektüre des Ringgedichts, meist im Klappentext, hätte hier gereicht um gröberes zu verhindern. Weiter geht es mit einem kurzen Überblick über die Schöpfungsgeschichte Mittelerdes, in der gleich zweimal die „Vatar“ auftauchen: „Nach den Vatar, den Geisterweisen, hatte Illúvatar nämlich als Zweites die Menschen erschaffen …“ (S. 76). Die Quelle dieser Information würde mich brennend interessieren. Tolkien war es mit Sicherheit nicht.

Von den vielschichtigen Deutungsansätzen des Herrn der Ringe wird lediglich in einem Absatz am Ende über Machtmissbrauch und die Legitimation von Herrschaft gesprochen. Weitere Interpretationsansätze, Informationen zum Autor etc. sucht man also auch in der Überkategorie Mittelerde vergebens.

Der Autor verzettelt sich in seinen Einträgen zu Mittelerde also in Details, die dann leider teilweise auch noch völlig falsch sind. Eine allgemeinere Einordnung wie bei den anderen Werken wäre sicher spannender gewesen, da eine getreue Abbildung der Welt auf diesen paar Seiten nur Scheitern kann. Geschafft hat das Karen Wynn Fonstadt in ihrem über 200 Seiten umfassenden Historischen Atlas von Mittelerde – der leider auch mit keinem Wort als weiterführende Literatur erwähnt wird. Insgesamt bietet der Atlas der fiktiven Orte allerdings einen durchaus gelungenen Einblick in viele fiktive Welten, manche noch vom Leser unentdeckt, manche vielleicht vor langer Zeit besucht. Die Einträge machen definitiv Lust auf weitere Erforschung, vielleicht tatsächlich mit Ausnahme der für den unbedarften Leser erstaunlich detailverflochtenen und sich wiederholender Informationen zu Tolkiens Welt. Die Einladung zu einer Entdeckungsreise „an die Orte der Fantasie“ (S. 8 ) kann aber trotzdem angenommen werden.

Deshalb verlosen wir auch guten Gewissens ein Exemplar des Atlases beimTolkien Thing vom 12.-15. Juli 2012 auf Burg Hessenstein.

Marie- Noëlle Biemer studierte Anglistik, Russistik und BWL an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und Business Studies an der University of Bradford, UK. Sie schrieb ihre Diplomarbeit über William Morris Prosaromanzen und deren Einfluss auf Tolkien, in der Morris späte fantastische Romanzen und die auffälligen Ähnlichkeiten, die man in Tolkiens Werken über Mittelerde finden kann, untersucht werden. Zu dem Thema hat sie mittlerweile zwei Artikel veröffentlicht.  Sie arbeitet heute als Redakteurin bei einer Fachzeitschrift in Frankfurt. Als zweite Vorsitzende der Deutschen Tolkien Gesellschaft organisiert sie Veranstaltungen, ist Redakteurin der DTG Website und Mitherausgeberin des DTG Jahrbuchs Hither Shore.

  • Hat Dir der Beitrag gefallen?
  • janein
WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner