Die Gravitationslinse und die Schultern des Riesen – wie es mit dem Seminar weiterging

Von Wilfried Schönfelder

Ja, wir stehen dazu, von Tolkien beeinflußt zu sein. Deshalb soll dieser Betrag die Trilogie komplett machen. Dabei hat Tolkien diese Form höchstens widerwillig geduldet und schon gar nicht erfunden. Man denke nur an Winnetou 1 bis 3.

Während Marie-Noelle an der frischen Luft ihr erstes Fazit des Seminars unter die Tasten klemmte, ließen wir uns bei einer City Tour über Jenas Vergangenheit aufklären. Wir erfuhren, wie spannend es war, bis Goethe und Schiller endlich zueinanderfanden, warum Goethe die Stadtmauer abreißen ließ (nicht um seine Steinesammlung zu vervollständigen, sondern um das Stadtgebiet aus der Enge zu befreien), wie Ernst Abbe weitere Zigarrendiebstähle verhindern konnte (er verschenkte sie einfach) und wie es der kleinen Stadt gelang, den Verlust von 17.000 Arbeitsplätzen in der optischen Industrie zu verkraften (unter anderem durch 27.000 Studenten). Die Tour endete auf dem Campus direkt vor der Tagungsstätte, nebenbei auch Landeplatz für skurrile außerirdische Raumschiffe, die von phantasielosen Einheimischen je nach Kinderstube entweder als „moderne Kunst“ bezeichnet oder mit abfälligen Begriffen aus dem Bereich der modernen Abfallwirtschaft belegt werden.

Kill your darlings

Nach der Pause schilderte Anna Thayer, wie sie unter Tolkiens Einfluß überhaupt zum Schreiben kam und irgendwann (fast) alles über Bord warf, um ihren eigenen Stil und Inhalt zu finden. Sie hatte sogar das seltene Glück, sich gegen Änderungswünsche von Verlagen und Beratern behaupten zu können. Das bekannte Motto „Kill your darlings“ empfiehlt sie ausdrücklich – aber bitte wirklich und ohne sie zurückzuholen! Dem Schwarzweißschema und der klaren Trennung von Gut und Böse setzt sie differenzierte Grautöne entgegen. Aber war Grau nicht Tolkiens Lieblingsfarbe?

Bei der folgenden Halbzeitdiskussion wurden noch einmal alle Wunden aufgerissen und schließlich die Frage gestellt, ob Erfolg und Qualität überhaupt irgendwie zusammenhängen. Hat der Erfolg von Tolkiens Werk(en) und einigen Epigonen etwas mit Originalität zu tun oder damit, wie er vertraute Kategorien und Bausteine einsetzt? Und welche Rolle spielt es, ob ein Werk über 30 Jahre wächst, immer wieder überarbeitet wird (größtenteils handschriftlich) oder ob es schnell entsteht, mit moderner Technik bis hin zu fertigen Textbausteinen? Man denke nur daran, wie viel sich in der „realen Welt“ in dieser Zeitspanne verändert, nicht nur der Autor selbst. Auch die Integration von Natur und Landschaft in die Handlung wurde als Erfolgsfaktor und relativ neue Dimension erwähnt.

Neues von Walking Tree

Zwei Programmpunkte gehören schon länger zur Tradition des Seminars: Dieter Bachmann stellte neue Publikationen von Walking Tree Publishers vor, das Thema „Tolkien und Wagner“ gab sogar Stoff für zwei Bücher her; auch die Hobbit Place-names von Rainer Nagel sind dank dezenter Geburtshilfe des Herausgebers endlich erhältlich. Da bleibt vor allem ein Wunsch offen: mehr Zeit zum Lesen. Die Ehrendoktorwürde der Dwarvish University of the Blue Mountains wurde an Frank Weinreich verliehen. Nicht nur fürs Abschreiben – das ist sicher.

Nach einer kurzen Turmbesteigung (drei Schwindelfreie, die überlegten, ob sie sich in dieser Höhe einem Adlerrücken anvertrauen würden) ging es direkt zum Abendessen, wo sich auf natürliche Weise das Rätsel klärte, warum mir die Stadt auf einmal so menschenleer vorkam: Ganz Jena hatte sich in der „Noll“ versammelt – über mehrere Etagen, Emporen, geheime Nebengänge und den Wintergarten gestapelt. Zum Glück hatten wir reserviert und konnten ungestört das gute Essen wie die Diskussionen genießen (zum Beispiel über Ethik und Moral bei HP und HdR) und obendrein die Professionalität der Noll-Mitarbeiter bewundern, mit der sie den Ameisenhaufen im Griff behielten. Das ist eine Extra-Erwähnung wert! Vielleicht hat auch mancher bei der Essensauswahl auf formelle Kontinuität gesetzt – zum Beispiel mit einer Trilogie vom Lachs.

Teamwork statt Hierarchie

In der Zielgeraden am Sonntagmorgen gab Natalia Gonzales de la Llana einen Einblick in die Welt von Laura Gallego García, die mit ihren Memorias de Idhún ein komplizierte Geflecht von Mythen und Personen schuf. Das weibliche Element spielt eine große Rolle, und das bedeutet hier: statt Schwarz und Weiß keine Grautöne, sondern ein buntes Gemisch von Farben, Verständigung statt Konfrontation und Teamwork statt Hierarchie.

Nach der Pause hatte sich Frank Weinreich schon warmgetanzt. Seine originelle (und vielleicht etwas unakademisch wirkende) Methode zum Nachweis von Einflüssen: einfach die Autoren fragen. Er rundete damit besonders den Beitrag von Friedhelm Schneidewind ab und setzte den Deckel auf drei Tage Seminar mit dem Plädoyer für einen selbstverständlichen Baustein literarischer Tradition: „Tanzen auf den Schultern des Riesen. Über das Abschreiben (nicht nur) in der phantastischen Literatur“. Ein Bild, das für sich spricht, das man aber nach Belieben differenzieren kann: Nicht jeder Riese ist gleich groß, auf seinen Schultern sitzen oder stehen genügt nicht, das Tanzen ist ein kreativer Akt und hat auch mit Balance zu tun. Es gibt gute und schlechte, kleine und große Tänzer, und schließlich kann auch jeder selbst zum Riesen werden.

Die spezielle Rolle Tolkiens kann man am Beispiel der Gravitationslinse darstellen: Ein schwerer Stern krümmt den Verlauf von Lichtstrahlen zum Zentrum hin, und was vorher auseinanderstrebte, läuft hinter dem Schwerefeld wieder zusammen. Für Autoren, Leser und Verlagsgeschäft ein Einfluß, an dem man nicht vorbeikommt, wenn man sich in seine Nähe begibt, aus dem man vielleicht unversehrt hervorgeht, aber bestimmt nicht unverändert.

So brachten die beiden Praktiker Frank (Weinreich) und Friedhelm (Schneidewind) sozusagen „aus dem FF“ einen verdauungsfördernden Sauerteig in die Solidität der akademischen Diskussion.

Das Seminar geht nach Westen

Der übersichtliche Charme der „kleinen Großstadt“ Jena ist schwer zu übertreffen, vor allem wenn das Wetter so mitspielt wie die letzten Male. Nicht überraschend bleibt ein Wunsch fast immer unerfüllt: mehr Zeit für Gespräche, persönlich und offiziell. Für das nächste Tolkien Seminar 2013 wurde nach Aachen eingeladen. So weit im Westen war es noch nie. Über das Thema wird beim Thing der DTG im Juli entschieden, auch der genaue Termin steht noch nicht fest. Wer noch Ideen oder Themenvorschläge hat, kann sich einfach an die DTG wenden.

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